1.) Was hältst du von festen Mahlzeiten in der Recovery? Soll ich eine Mahlzeitenstruktur befolgen oder intuitiv essen?
Es gibt Expert*innen, die behaupten, dass eine intuitive Ernährung auf dem Weg aus der Essstörung unmöglich ist. Ich denke, dass intuitive Ernährung auf dem Weg aus der Essstörung nicht grundsätzlich unmöglich ist, der Ansatz dieser intuitiven Ernährung lediglich neu gedacht werden muss.
Um die Schwierigkeiten des intuitiven Essens auf dem Weg aus einer Essstörung begreifen zu können, darf man sich zunächst einmal anschauen, was intuitive Ernährung überhaupt ist: Intuitive Ernährung beschreibt eine Ernährungsform, bei der man isst, wenn man hungrig ist und mit dem Essen aufhört, wenn man satt ist. Klingt in der Theorie ganz einfach, in der Praxis ist es das aber nicht.
Auf meinem eigenen Heilungsweg habe ich mich an eine grundlegende Mahlzeitenstruktur bestehend aus 3 Hauptmahlzeiten und 2-3 Snacks gehalten. No matter what. Ob ich Hunger hatte oder nicht. Ob ich Appetit hatte oder nicht. Ja, sogar ob ich mich wohl gefühlt habe oder nicht.
Das klingt erst einmal so, als hätte ich gegen mich und meine Bedürfnisse gehandelt. Allerdings konnte ich mich zu dieser Zeit noch nicht auf meine Bedürfnisse und Intuition verlassen. Weil ich Angst vor bestimmten Lebensmitteln hatte. Weil mir das Gefühl für normale Portionsgrößen fehlte. Weil meine Hunger- und Sättigungssignale
verschoben waren. Und sich die Bedürfnisse meines Körpers unglaublich bedrohlich anfühlten.
Die Grenzen zwischen meinem essgestörten und dem gesunden Anteil waren so verwoben, dass ich permanent zwei Stimmen im Kopf hatte: Eine, die essen, heilen und gesund werden wollte. Und eine andere, die versucht hat, mich genau davon abzuhalten. Bevor ich also sagen konnte, ob ich mein Porridge wirklich lieber mit einem Apfel toppe oder es nur tue, weil sich ein Apfel sicherer als eine Banane anfühlt bzw. ob mir die halbe Pizza wirklich reicht oder ich nur nicht aufesse, um nicht „zu viel“ zu essen, musste ich meinen gesunden Anteil stärken und ein neutrales Verhältnis zu allen Lebensmitteln bekommen. Durch die Auseinandersetzung mit meiner Essstörung, ihren Hintergründen und der persönlichen Weiterentwicklung einerseits. Durch Verhaltensweisen entgegen den Überzeugungen meiner Essstörung andererseits. Es war wichtig für mich, das Porridge auch mal aus Prinzip mit der Banane zu toppen, um zu erkennen, dass eine Banane nicht schlechter oder besser als ein Apfel ist. Und es war wichtig für mich, auch mal die ganze Pizza zu essen, um erfahren zu können, dass mein Körper mit einem vermeintlichen „zu viel“ umgehen kann.
Je stärker der gesunde Anteil wurde, desto lauter wurde meine Intuition und desto eher ist es mir gelungen, diese auch in die Gestaltung meiner Mahlzeiten einfließen zu lassen. Und das ist der Knackpunkt: Ich habe bis heute eine gewisse Mahlzeitenstruktur. Aus Selbstfürsorge. Irgendwo auch aus Selbstschutz, weil ich weiß, wie schnell eine ausgelassene Mahlzeit dazu führen kann, wieder und wieder eine Mahlzeit ausfallen zu lassen. Dennoch beinhaltet meine Ernährung intuitive Ansätze.
Obwohl ich eine grundlegende Mahlzeitenstruktur habe, bin ich in der Gestaltung meiner Mahlzeiten frei geworden. Ich esse Frühstück, Mittag- und Abendessen, entscheide aber spontan, worauf ich Lust habe. Manchmal esse ich an drei aufeinanderfolgenden Tagen Porridge, dann verspüre ich Lust auf ein Brot mit Butter und Käse. Heute hinterfrage ich das nicht mehr, sondern gebe meinem Körper, was er braucht. Außerdem respektiere ich, dass er keine Maschine ist und es hin und wieder Tage gibt, an denen ich mehr Hunger bzw. weniger Hunger habe. Es ist kein Problem mehr, von meiner gewohnten Mahlzeitenstruktur abzuweichen, größere bzw. kleinere Portionen zu essen, einen Snack mehr oder weniger einzubauen.
Wie du gemerkt hast, habe ich mich bei dieser Antwort auf meine Erfahrung berufen. Ich kann keine allgemeingültige Aussage treffen, weil jeder Heilungsweg anders ist. Mir hat die Mahlzeitenstruktur gut getan und dazu beigetragen, dass ich Ess-Brech-Anfälle im Zuge meiner Bulimie ablegen konnte. Andere wiederum könnte sie unter Druck setzen oder einschränken. Beim Lesen spürst du recht gut, ob die Worte mit dir resonieren oder nicht. Entsprechend kannst du einige meiner Ansätze für dich umsetzen oder weißt zumindest, was für dich nicht funktioniert.
2.) Wie kann ich mit dem schlechten Gewissen nach dem Essen umgehen?
Im Umgang mit dem schlechten Gewissen kann es helfen, zunächst einmal zu beobachten, wann das schlechte Gewissen auftaucht: Nach bestimmten Mahlzeiten, Lebensmitteln und Gerichten? An Tagen, an denen du dich weniger bewegt hast? Oder an Tagen, an denen es dir nicht gut geht und du dich gestresst fühlst?
Mir hat es geholfen, zu verstehen, woher mein schlechtes Gewissen kommt. Es bringt nämlich nichts, mich damit auseinanderzusetzen, wieso Kohlenhydrate und Fette wichtig sind, wenn mein eigentliches Problem die Bewegung ist und umgekehrt. Wenn du dich und deine Ängste kennst, kannst du lösungsorientierter mit deinem schlechten Gewissen umgehen.
3 Dinge, die sich für mich außerdem bewährt haben:
1.) Sage dir, dass es okay ist, dich nicht gut zu fühlen.
Heilung ist nicht leicht. Dass der Heilungsweg negative Gefühle hervorrufen kann, ist demnach nicht verwunderlich. So absurd es klingt - negative Gefühle und ein schlechtes Gewissen nach dem Essen sind Zeichen, alles richtig gemacht zu haben.
2.) Mache dir bewusst, dass Gefühle dir nichts anhaben können.
Das schlechte Gewissen nach dem Essen ist ein Gefühl. Nicht mehr und nicht weniger. Auch wenn Gefühle teilweise übermächtig scheinen, können Sie uns in Wahrheit nichts anhaben. Mache dir also bewusst, dass dieses Gefühl vergänglich ist und morgen oder nächste Woche schon keine Rolle mehr spielt.
3.) Essen und vergessen.
Gerade am Anfang kann es auch helfen, dich nach dem Essen abzulenken. So richtest du deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes als die Essstörung. Du kannst dir eine Notfallliste erstellen, auf der du einige alternative Beschäftigungsmöglichkeiten notierst, um in kritischen Situationen, ohne lange darüber nachzudenken, darauf zurückgreifen zu können.
3.) Wie kann ich aufhören, mein Essen in die Länge zu ziehen? Ich sitze oft 1-2 Stunden an einer Mahlzeit.
Eine Begleiterscheinung der Essstörung, die ich in einem meiner letzten Beiträge bereits erwähnt habe, ist der Food-Focus – also die extreme Beschäftigung mit sowie die Fixierung auf Essen. Der Food-Focus beschränkt sich nicht nur auf Gedanken an Essen. Er beschreibt auch, dass jedes Essen „zelebriert“ wird. Dazu zählt die Art der Zubereitung, wie es angerichtet wird, auf welchem Teller und mit welchem Besteck. Aber auch wie viel Zeit wir uns beim Verzehr lassen.
Ich hatte viele Regeln, um mein Essen in die Länge zu ziehen: Brötchen niemals abbeißen, sondern in kleine Stücke schneiden. Gemüse zuerst essen, um Kohlenhydrate und damit „das Beste zum Schluss“ aufzuheben. Hauptmahlzeiten mit Kaffee- und Kuchenbesteck essen oder mit Wasser strecken, um länger beschäftigt zu sein.
Die gute Nachricht ist, dass der Food-Focus nachlässt, je weiter du auf deinem Heilungsweg kommst und dich einem gesunden Körperfettanteil sowie deinem biologischen Idealgewicht näherst. Meiner Erfahrung nach verschwinden viele der ungesunden Routinen und Zwänge damit von ganz allein.
Was ich eine Zeit lang probiert habe, war, mir einen Timer beim Essen zu stellen oder mir einzelne Mahlzeiten von meiner Mama in mundgerechte Stücke schneiden zu lassen. Langfristig hat mich das aber stark unter Druck gesetzt, was daran liegt, dass unser Verhalten über den Food-Focus hinaus einen bestimmten Grund hat. Eine Frage, die du dir deshalb stellen kannst und darfst, ist, wieso du versuchst, dein Essen in die Länge zu ziehen. Vielleicht stellst du fest, dass das Essen einen so großen Stellenwert hat, weil du deinem Körper nicht genug davon gibst. Vielleicht aber auch, weil es dich beschäftigt hält und du über das Essen hinaus nichts mit dir anzufangen weißt. Wenn du den Ursprung deiner Ängste kennst, kannst du Strategien entwickeln, diese aufzulösen. Indem du deinem Körper schrittweise mehr Energie zur Verfügung stellst oder neue Routinen in deinen Alltag etablierst, die dir ein Gefühl von Sinnhaftigkeit geben.
4.) Eine Sache, die mir das Essen extrem erschwert, ist, dass ich so schnell satt bin. Hast du einen Tipp?
Wenn ich über diese Frage nachdenke, fallen mir 3 Dinge ein, die mitverantwortlich für dieses unangenehme Völlegefühl sein können:
1.) Du stehst noch am Anfang deiner persönlichen Heilungsreise:
Zu Beginn meines eigenen Heilungswegs ging es mir ähnlich wie dir. Was ich dir gerne mitgeben möchte, ist, Geduld mit deinem Körper zu haben. Du weißt ja, dass wir Menschen Gewohnheitstiere sind. Das gilt auch für unseren Magen. Soll heißen, dass sich das Fassungsvermögen unseres Magens vergrößert oder verkleinert - je nachdem, wie viel Nahrung wir zu uns nehmen. Genauso wie sich dein Körper im Laufe der Essstörung an restriktives Essverhalten und kleine Portionen gewöhnt hat, kann er sich auf dem Weg der Heilung wieder auf regelmäßige Mahlzeiten und normale Portionsgrößen einstellen. Voraussetzung dafür ist, dass du dranbleibst und nicht aus Angst vor dem Völlegefühl oder aus einem schlechten Gewissen heraus zurück in die Restriktion gehst.
2.) Deine Verdauung funktioniert nicht richtig:
Das Völlegefühl kann auch ein Hinweis darauf sein, dass deine Verdauung nicht richtig funktioniert. Auch wenn es für die meisten Menschen unangenehm ist, kann es sehr aufschlussreich sein, sich mit dem eigenen Stuhlgang auseinanderzusetzen. Expert*innen gehen davon aus, dass eine Spanne von dreimal täglich bis dreimal wöchentlich als Orientierung für eine gesunde Verdauung betrachtet werden kann. Beobachte gerne mal, ob du dich innerhalb dieser Norm befindest oder stark davon abweichst.
Nach einer Essstörung ist es nicht ungewöhnlich, dass Verdauungsbeschwerden und Verstopfung auftreten. Immerhin bringen Essstörungen den gesamten Körper, insbesondere den Magen-Darm-Trakt und das Verdauungssystem durcheinander. Es braucht Zeit und Geduld, bis sich die Darmflora wieder aufgebaut hat und Verdauungsbeschwerden nachlassen. Was mir in dieser Phase geholfen hat, war neben Fenchel-Anis-Kümmel-Tee und einer Wärmflasche auch Lein-, Floh- oder Chia-Samen in meine tägliche Ernährung zu integrieren.
Sollte das Völlegefühl schon länger anhalten, rate ich dir, dieses ärztlich abklären zu lassen. In Kombination mit weiteren Beschwerden wie Blähungen, Durchfall und Co. könnte auch eine Unverträglichkeit zugrunde liegen.
3.) Deine Mahlzeiten haben ein zu großes Volumen:
Ich habe schonmal einen Beitrag zum Thema Volume-Food verfasst und kenne den Struggle vom „vielen Essen mit wenig Kalorien“ nur zu gut. Auf dem Weg aus einer Essstörung, kann der Trend zum Verhängnis werden, weil er Punkt 1 und 2 kombiniert.
Gerade, wenn unser Körper größere Portionen noch nicht gewohnt ist, erweckt Volume-Food den Eindruck „viel“ gegessen zu haben. Und zwar ohne wirklich viel gegessen zu haben. Obwohl in Obst, Gemüse und Salat Vitamine und Nährstoffe stecken, braucht unser Körper nach einer Essstörung vor allen Dingen Kohlenhydrate und Fette, um den „Überlebensmodus“ beenden zu können. Kohlenhydrate, weil sie beispielsweise direkten Einfluss auf unseren Blutzuckerspiegel nehmen und dadurch verhindern, dass das Stresshormon Cortisol freigesetzt wird. Und Fette, weil sie dazu beitragen, dass die in Obst und Gemüse enthaltenen Vitamine E, D, K und A überhaupt vom Körper aufgenommen werden können.
Zudem kann sich Volume-Food negativ auf deine Verdauung auswirken. Ein Großteil der Lebensmittel, die in die Kategorie des Volume-Foods fallen, sind nämlich schwer verdaulich – darunter viele Obst- und Gemüsesorten sowie Proteine. Bis sich dein Magen-Darm-Trakt von der Essstörung erholt und an normale Portionen gewöhnt hat, kann es sinnvoll sein, auf eine ballaststoffärmere Ernährung umzusteigen. Das heißt nicht, gar kein Obst und Gemüse mehr essen zu dürfen, sondern bewusster mit der Menge an Obst und Gemüse in deinen Mahlzeiten umzugehen und dich an einer Größenordnung von 2 Handvoll Obst sowie 3 Handvoll Gemüse am Tag zu orientieren. Mir hat es außerdem geholfen, von Vollkorn- auf Dinkel- oder Weizenprodukte umzusteigen. Abgesehen davon, dass meine Verdauung von dieser Umstellung profitiert hat, ist es mir dadurch gelungen, gesunde Ernährung neu zu definieren. Denn ja, Weizen genießt nicht den besten Ruf – doch wie gesund sind Vollkornprodukte, wenn du dadurch mit Verstopfung und einem unangenehmen Völlegefühl zu kämpfen hast?
5.) Was hältst du von Proteinpulver und -riegeln in der Recovery?
Ich persönlich nutze Proteinpulver in Porridge oder zum Backen und esse auch hin und wieder Proteinriegel. Ehrlich gesagt finde ich es etwas schade, dass es innerhalb der Recovery-Bubble sofort in Verbindung mit der Essstörung gebracht wird, wenn jemand auf seinen Proteinbedarf achtet. Proteine sind nun mal lebenswichtig, weil sie Grundbausteine für Muskeln, Organe und Blut, aber auch für Enzyme und Hormone liefern.
Gleichzeitig kann ich den Zwiespalt verstehen, weil Proteinpulver und -riegel auch für mich lange Ersatzprodukte gewesen sind. Ich habe mit einem Proteinshake eine Mahlzeit ersetzt und Proteinriegel genutzt, um Heißhunger zu stillen, wenn ich eigentlich Lust auf Süßigkeiten hatte. Du merkst schon, dass die Intention verkehrt war...
Um an einen Punkt zu kommen, an dem ich aus freien Stücken entscheiden kann, ob ich einen Kuchen mit oder ohne Proteinpulver backe und einen Proteinriegel oder lieber normale Schokolade esse, musste ich das Kategorisieren von Lebensmitteln in „gut“ und „schlecht“ auflösen. Und gerade, weil ich mich über lange Zeit kontinuierlich meinen Fearfoods gestellt habe (und es immer noch tue, wenn ich merke, dass ich Schwierigkeiten mit einem bestimmten Gericht oder einem bestimmten Lebensmittel habe), ist mein Verhältnis zu den allermeisten Lebensmitteln heute neutral. Das bedeutet, dass Proteinpulver und -riegel für mich nicht besser oder schlechter sind als andere Lebensmittel.
Heute verwende ich Proteinprodukte, weil sie mir schmecken und im Porridge für eine mega Konsistenz sorgen. Weil ich gerne neue Rezepte teste und sie mir als Vegetarierin darüber hinaus helfen, meinen Proteinbedarf zu decken. Ich sage aber nach wie vor nicht „Nein“ zu Porridge ohne Proteinpulver, normalem Kuchen oder herkömmlichen Süßigkeiten. In meiner Welt schließen sich diese Lebensmittel nicht mehr gegenseitig aus und ich glaube das ist, was die meisten Menschen mit einer Essstörung verunsichert, wenn sie Proteinpulver und Co. in Rezepten entdecken.
Wenn du Proteinprodukte zu dir nehmen möchtest, kannst du das selbstverständlich tun. Ich finde nur, dass du dir deiner Intention bewusst werden darfst und darauf verzichten solltest, wenn auch nur vorübergehend, sofern dein essgestörter Anteil aus Sicherheitsgründen darauf zurückgreifen möchte.
Ich hoffe das Q&A hat dir gefallen und du konntest dir daraus einige Erkenntnisse mitnehmen ♥
Falls du noch eine Frage hast, auf die ich im nächsten Q&A eingehen soll, schreib sie mir gerne über das Kontaktformular, DM auf Instagram oder in die Kommentare unter diesem Blogartikel.
Alles Liebe,
deine Saskia
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