Es ist Anfang Juli, in vielen Bundesländern haben die Sommerferien begonnen, die Urlaubssaison wird eingeläutet und der nächste Trip geplant.
Ich hatte lange das Gefühl, dass ich durch all die Jahre mit der Essstörung etwas verpasst habe. Ich war nach der Schule nie im Ausland, bin nie mit Freunden verreist und war generell nicht sonderlich abenteuerlustig. Deshalb habe ich mir vor drei Jahren auch Bilder von Urlaubsorten auf mein Visionboard geklebt und mir fest vorgenommen, nach der Essstörung mehr zu reisen. Ich weiß, wie das klingt... als würde das wahre Leben erst nach der Essstörung losgehen. Als könnte man über die Dauer des Heilungsprozesses mal eben auf Stopp drücken, alles anhalten und danach weitermachen. Obwohl wir uns hin und wieder genau das wünschen, geht es natürlich nicht! Und ehrlich gesagt ist das auch gut so: Weil es auf dem Weg aus der Essstörung ja genau darum geht, die Fühler wieder auszustrecken und das Leben mit allem, was dazugehört, zu erfahren. Mit jeder Erfahrung erlangen wir neue Erkenntnisse. Mit jeder Erkenntnis lernen, wachsen und heilen wir.
Deshalb ist es mir besonders wichtig, dir mitzugeben, vor herausfordernden Situationen nicht zurückzuschrecken, sondern sie in genau diesem Wissen anzunehmen. Und damit du das mit etwas weniger Zweifeln und etwas mehr Leichtigkeit tun kannst, möchte ich heute hilfreiche Gedanken und Tipps mit dir teilen, die dich vor, während und nach einem Urlaub oder einer Reise unterstützen können.
Vor dem Urlaub:
Was ich durch meine eigene Geschichte, die Frauen, mit denen ich zusammenarbeite und Gesprächen mit euch auf Instagram gelernt habe, ist, dass Betroffene von Essstörungen häufig das starke Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle verspüren.
Die gute Nachricht ist, dass ein Urlaub selten überraschend kommt, sondern bereits Wochen oder sogar Monate vorher mit der Planung beginnt: Wohin soll es gehen? Und wie lang? Abenteuer oder Relaxen? All-Inclusive, Halbpension oder Selbstversorger? Bei all diesen Fragen kannst und darfst du berücksichtigen, wo auf deinem Heilungsweg du stehst und was du dir aktuell zutraust. Es gibt Betroffene, denen ein Ortswechsel sehr guttut, sodass sie im Urlaub regelrecht aufblühen. Wenn du dich in dieser Beschreibung wiedererkennst, kannst du natürlich etwas experimentierfreudiger sein, als wenn der Gedanke an eine räumliche Veränderung dich schon jetzt überfordert.
Selbstverständlich kannst du den Urlaub auch bei deinem Therapeuten oder Coach ansprechen, um Zweifel aus dem Weg zu räumen und dich darauf vorzubereiten. Mach dir gerne Notizen, die du dir im späteren Urlaub wieder in Erinnerung rufen kannst.
Natürlich schließt die Planung in vielen Fällen die Familie, den Partner oder die Partnerin und Freunde ein. Aus meinem letzten Beitrag weißt du bereits, wie wichtig eine offene und ehrliche Kommunikation ist. Ich weiß, dass es immer erst einmal Überwindung kostet, mit deinen Liebsten über Ängste und Sorgen zu sprechen, im Endeffekt kannst du dadurch aber nur gewinnen. Wir fürchten uns oft vor einem Konflikt. Davor, die „Extrawurst“ zu spielen und den anderen mit unseren „Sonderwünschen“ den Urlaub zu vermiesen. Dabei geht es an dieser Stelle nicht um „Extrawürste“ und „Sonderwünsche“, sondern darum, dass in einer herausfordernden Zeit in deinem Leben – einer Zeit, in der du alles daran setzt, deine Beziehung zu dir, deinem Körper und dem Essen zu heilen – Rücksicht auf dich genommen werden kann. Du hast nichts falsch gemacht, wenn diese Bereitschaft nicht da ist, darfst dir aber die Frage stellen, ob du wirklich mehrere Tage mit Personen verbringen möchtest, die dich nicht oder nur im Rahmen ihrer Vorstellungen unterstützen. Dem Urlaub mit einer gewissen Leichtigkeit entgegenblicken zu können, ist eine deutlich bessere Grundvoraussetzung für eine schöne Zeit, die Spielraum für die eine oder andere Herausforderung lässt, in der du über dich hinauswachsen kannst.
Und das fängt bereits beim Packen an: Wenn dich der Gedanke an den Urlaub stresst und überfordert, ist es nicht unwahrscheinlich, dass dein Gehirn in den Überlebensmodus schaltet. Rationales Denken ist dann nur noch eingeschränkt möglich. Stattdessen triffst du Entscheidungen, die im Einklang mit deiner Essstörung stehen, was in meinem Fall oft dazu geführt hat, dass Dinge in den Koffer gewandert sind, die ich nicht wirklich gebraucht hätte: Alle möglichen Lebensmittel, unzählige Sportklamotten, meine Fitnessuhr, sogar die Waage.
Wenn du schon im Voraus weißt, dass du dich im Urlaub womöglich weniger bewegen wirst oder keine Möglichkeit hast, Sport zu machen, erschweren dir diese Dinge lediglich den Prozess, dich darauf einzulassen. Dabei ist Urlaub eigentlich eine super Gelegenheit, damit anzufangen, destruktive und essgestörte Verhaltensmuster abzulegen. Während ich mir daheim immer ein Schlupfloch gelassen habe und genau wusste, wo und wie ich auf die Waage, meinen Schrittzähler und Co. zugreifen konnte, gab es dieses Schlupfloch im Urlaub nicht, was mir bei einigen Themen gezeigt hat, dass ich viel stärker bin, als ich mir selbst zutraue und es eigentlich gar nicht so schlimm ist, wie ich es mir im Voraus oft ausgemalt habe.
Was ich als hilfreich erlebt habe, war, mir ein paar „Safe-Foods“ für den Notfall einzupacken. Ich mache das übrigens bis heute – auch wenn ich keine Safe- oder Fear-Foods mehr habe. Ich habe gerne etwas parat, das ich essen kann, wenn ich zwischendurch Hunger habe. Früher konnte ich so vermeiden, in kritischen Situationen gar nichts zu essen, was (wie wir wissen) schnell dazu führen kann, dass die Essstörung den Fuß wieder in der Tür hat.
Während des Urlaubs:
Ich habe euch auf Instagram gefragt, wo eure größte Herausforderung liegt, wenn es um das Thema Urlaub geht. Obwohl eine „fehlende Struktur“ nicht die einzig genannte Schwierigkeit war, war es definitiv die häufigste. Meistens ticken die Uhren im Urlaub ein bisschen anders: Durch Ausschlafen, Unternehmungen oder die Tatsache, dass man nicht allein unterwegs ist und sich anderen Menschen anpassen muss, verändert sich die gesamte Tagesstruktur. Zusätzlich können Dinge entfallen, die sonst Teil der Struktur sind, wie spazieren gehen oder Sport machen.
Häufig treten an die Stelle der „Leere“ essgestörte Denk- und Verhaltensmuster – immerhin erzeugt die Essstörung eine „künstliche Struktur“ und gibt uns das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Damit es nicht so weit kommt, ist eine gewisse Vorbereitung wichtig: Mir hilft es nach wie vor, 1-2 Dinge aus meinem gewohnten Alltag zu integrieren, die mir auch im Urlaub ein Gefühl von Sicherheit schenken. Das kann meine Journalingroutine am Morgen sein oder eine kurze Meditation am Abend.
So schwer ein Abweichen von der sonst so gewohnten Struktur auch sein mag – wenn du mich fragst, ist es gleichzeitig auch eine Chance. Denn während eine gewisse Struktur gerade zu Beginn der Recovery hilfreich und sinnvoll ist, hält sie uns im späteren Verlauf oft in der sogenannten Quasi-Recovery. Unsere Struktur lässt uns ausreichend essen, sieht ein gesundes Maß an Bewegung vor und erweckt im Außen den Anschein, dass wir „gesund“ sind – dabei überfordert uns jedes spontane Essensangebot, jede Planänderung, durch die wir nicht zum Sport gehen können und wir sind alles andere als frei, spontan, flexibel. Ich denke, du weißt, worauf ich hinauswill.
Ein Urlaub lässt dich deine Struktur hinterfragen und zeigt dir ziemlich genau auf, wo deine Schatten liegen. In welchen Bereichen du noch Heilung erfahren darfst. Denn nein, das Ziel ist nicht, innerhalb deiner Struktur zu heilen. Sondern vollständig, ganzheitlich und nachhaltig zu heilen. Öffne dich also für die Möglichkeit, im Urlaub ganz bewusst von deiner Struktur abzuweichen und dir dadurch etwas mehr Freiheit, Spontaneität, Flexibilität und Leichtigkeit in deinen gewohnten Alltag mitzunehmen.
Eine Frage, die mir immer schon dabei geholfen hat, „Ja“ zu Herausforderungen zu sagen, ist: Wie möchte ich in einem Jahr auf diesen Tag, dieses Erlebnis oder eben diesen Urlaub zurückblicken?
Wie bereits gesagt, setzt unser rationaler Verstand in kritischen oder Stresssituationen oftmals aus. Stattdessen verfallen wir in den Überlebensmodus, in dem wir unterbewusst und nahezu automatisch auf Methoden zurückgreifen, die sich in der Vergangenheit „bewährt“ haben. Beispielsweise eher an Safe-Foods festzuhalten, Kalorien einzusparen oder dich zu übergeben, wenn es doch vermeintlich „zu viel“ war. Einen Moment herauszuzoomen und das große Ganze zu betrachten, kann enorm helfen. Denn Fakt ist, dass du dich in einem Jahr vermutlich eher an schöne Sonnenuntergänge, Abende mit deinen Liebsten oder faszinierende Orte erinnern möchtest, als daran, wie oft du zwar über deinen Schatten springen wolltest, dich aber einfach nicht getraut hast.
Eine Sache, die mir den Urlaub darüber hinaus oft erschwert hat, war das permanente Vergleichen. Und ich bin mir sicher, du kennst das. Deshalb ist es mir besonders wichtig, dir mitzugeben, dass du respektieren darfst, wo auf deinem Heilungsweg du dich gerade befindest. Wenn andere weniger essen, weil sie bei warmem Wetter keinen Appetit verspüren, bedeutet das nicht, dass du auch weniger essen musst. Erinnere dich daran, dass dein Partner, deine Familie oder Freunde gerade nicht auf dem Weg aus einer Essstörung sind und es dementsprechend halb so wild ist, wenn sie eine Mahlzeit ausfallen lassen. Andersherum ist es aber mindestens genauso wichtig, dich nicht auf Diskussionen zu deinem Essverhalten einzulassen, wenn du weniger isst als sie. Wie gesagt: Eine gewisse Herausforderung ist super und durchaus zu empfehlen, doch in erster Linie für dich und nicht für andere. Das führt im Endeffekt nur zu einer Menge Druck, der sich früher oder später sein Ventil sucht.
Neben dem Essverhalten tendieren wir auch dazu, unseren Körper zu vergleichen, ihn be- oder sogar abzuwerten. Wenn es sich aktuell nicht gut für dich anfühlt, dich in kurzer Kleidung oder einem Bikini zu zeigen, kannst du auf T-Shirts, Strandkleider oder Umhängetücher zurückgreifen. Allerdings habe ich die Erfahrung, dass es den Menschen um mich herum größtenteils vollkommen egal ist, wie mein Körper aussieht, als sehr hilfreich erlebt. Es mag sich ein bisschen cringe anhören, mir hat es aber auch geholfen, andere im positiven Umgang mit ihrem Körper zu „beobachten“. Wie sie dasitzen und sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob sie eine, zwei oder drei Bauchfalten haben. Wie sie Beachvolleyball spielen und keinen Wert darauf legen, wie ihr Körper dabei aussieht. Wie viel Spaß sie haben, weil sie einfach frei sind.
Nach dem Urlaub:
Ob Wochenendtrip oder längerer Urlaub – irgendwann geht jede Reise zu Ende und ich bin ehrlich: Nach Hause zu kommen fällt mir bis heute schwer. Veränderte Gegebenheiten, selbst wenn es nur der Wetterumschwung ist, drücken auf meine Stimmung und hinterlassen ein Gefühl der Leere. Inzwischen habe ich einen guten Weg gefunden, mit all den Gedanken und Gefühlen umzugehen: Journaling. Nimm dir nach deinem Urlaub die Zeit und reflektiere einmal, was im Urlaub gut geklappt hat und was du zukünftig auch daheim umsetzen möchtest. Vielleicht hat es dir ja gutgetan, keine Schritte und Kalorien zu zählen oder weniger Sport zu machen. Unbeschwerte Momente oder Tage im Urlaub kannst du als Vorgeschmack auf ein von der Essstörung befreites Leben sehen. Weil diese Momente oder Tage im Alltag, insbesondere in stressigen Phasen oder kritischen Situationen häufig aus unserem Bewusstsein verschwinden, kannst du deine Erinnerungen natürlich auch notieren oder Urlaubsfotos ausdrucken und in dein Journal bzw. auf dein Visionboard aufkleben. Sie können dich daran erinnern, dass es sich lohnt, den Weg der Heilung zu gehen. Vor allen Dingen aber auch daran, dass du alles, was du im Urlaub geschafft hast, auch nach dem Urlaub schaffen kannst.
Und selbst wenn du im Urlaub gemerkt hast, dass du noch sehr stark in deiner Komfortzone lebst und es viele Situationen gab, die dich überfordert haben, hast du gewonnen: Nämlich neue Erkenntnisse. Stell dir die Frage, was beim nächsten Mal anders sein darf und welche Babysteps dich diesem Ziel ein kleines Stückchen näher bringen. Es ist okay, dass du nicht jede Herausforderung annehmen konntest. Es ist okay, wenn der Urlaub nicht perfekt und vollkommen befreit von der Essstörung war. Alles, was war, darf sein.
Du bist auf dem richtigen Weg.
Alles Liebe,
deine Saskia
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