Früher hat das Wiegen für mich dazugehört. Morgens. Mittags. Abends. Manchmal auch irgendwo dazwischen. Oder mitten in der Nacht. Ich war süchtig danach, mich zu wiegen.
Die Waage hat bestimmt, wie mein Tag aussieht:
War das Gewicht niedriger als am Vortag, löste das ein regelrechtes Glücksgefühl in mir aus. Der Tag war gerettet. Blieb das Gewicht unverändert oder war es etwas höher als am Vortag (und da reichten in meinen Augen schon 100 Gramm), war ich unglaublich wütend auf mich. Der Tag war gelaufen.
Meine Beziehung zur Waage hat sich auch in der Recovery nicht gebessert.
Ich wusste, dass ich zunehmen muss. Und ich wollte es auch. Ich war bereit diesen Preis zu zahlen. Dafür, dass es mir endlich besser geht und ich gesund werde. Und trotzdem: Schwarz auf Weiß ablesen zu können, wie das Gewicht gestiegen ist und wie sich mein Essverhalten unmittelbar auf mein Gewicht auswirkt – das war alles andere als einfach für mich.
Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich mich gefragt habe, wieso ich mir den Weg aus der Essstörung noch schwerer mache, als es ohnehin schon ist. An diesem Tag habe ich entschieden, unnötigen Ballast abzuwerfen und habe mich seitdem nicht mehr gewogen.
Ich weiß, wie schwer es ist, sich endgültig von der Waage zu lösen. Schwer, aber nicht unmöglich. Ich habe es geschafft und möchte diesen Beitrag nutzen, dir Tipps und Ratschläge an die Hand zu geben, damit du es auch schaffen kannst.
Side-note: Es kann aus medizinischer Sicht wichtig und sinnvoll sein, dich zu wiegen. In diesem Fall empfehle ich dir, dich blind wiegen zu lassen. Auch ich habe mich eine Zeit lang verkehrt herum auf die Waage gestellt und mit meiner Mama und meiner Ärztin die klare Absprache getroffen, dass keine von beiden sich zu meinem Gewicht äußert.
Sollte ich auf das Wiegen verzichten?
Beantworte dir folgende Fragen ehrlich.
Die Fragen dienen einer kurzen Bestandsaufnahme. Bewerte oder verurteile dich also nicht für deine Antwort.
- Wie fühlst du dich, wenn die Zahl auf der Waage gesunken ist? Was löst das in dir aus? Insgeheim ein bisschen Freude? Den Wunsch, noch mehr Gewicht zu verlieren?
- Wie fühlst du dich, wenn die Zahl auf der Waage gestiegen ist? Was löst das in dir aus? Wertest du dich ab? Fühlst du dich dick?
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Wie fühlst du dich, wenn die Zahl auf der Waage unverändert ist? Was löst das in dir aus? Bist du insgeheim ein wenig frustriert?
- Hat die Zahl auf der Waage Einfluss darauf, wie viel oder wie wenig du den Rest des Tages isst?
- Hält die Zahl auf der Waage dich davon ab, auf deinem Heilungsweg all-in zu gehen?
Es ist nicht schlimm, wenn du an dieser Stelle bemerkst, dass die Waage und dein Gewicht nach wie vor Einfluss auf dich, deine Gedanken, deine Gefühle und deine Handlungen nehmen. Während deiner Essstörung hast du dein gesamtes System darauf gepolt, dich nur dann gut zu fühlen, wenn die Zahl auf der Waage immer niedriger wird. Zu verfolgen, wie sie jetzt, in deiner Recovery, nach und nach steigt, löst in dir unterbewusst das Gefühl aus, dass hier etwas nicht stimmen kann.
Die Beantwortung der Fragen dient im ersten Schritt der Erkenntnis, dass die Waage ein Energievampir ist. Das bedeutet, dass sie dir mehr Kraft raubt, als sie dir geben kann. Aus dieser Erkenntnis heraus kannst du den Willen entwickeln, die Waage ein für alle Mal aus deinem Leben zu streichen.
Von der Waage lösen in 6 Schritten:
1.) Du musst es wollen!
Wie schon gesagt, steht am Anfang die Erkenntnis, aus der sich dein Wille entwickeln kann. Wenn du etwas wirklich willst, kannst du alles schaffen.
2.) Um dich von der Waage zu lösen, musst du dich von der Waage lösen!
Hier musst du für dich entscheiden, ob es reicht, die Waage an einen Ort außerhalb deines Blickfeldes zu verbannen oder ob du sie besser komplett entsorgst. Du kannst sie verschenken oder mit einem Hammer zerschlagen. Kein Witz! Das nenne ich mal ein Statement gegenüber deiner Essstörung! ;)
3.) Ins kalte Wasser springen!
Ohne Waage wirst du dich nicht mehr wiegen können und genau das ist mein Rat an dich. Lass es sein. Von heute auf morgen. So habe ich es auch gemacht.
Ich bin eigentlich kein Fan von Hau-Ruck-Aktionen. Doch es macht keinen Sinn dir an dieser Stelle zu empfehlen, dich vorerst nur noch 4-mal, dann 3-mal, dann 2-mal pro Woche zu wiegen, bis zu dich am Ende gar nicht mehr auf die Waage stellst. Das zögert das Unvermeidbare nur unnötig hinaus, wodurch es dir letzten Endes noch schwerer fällt.
Auch wenn es Tage gibt, an denen die Versuchung groß ist, dich bei einer Freundin, einem Freund oder im Fitnessstudio mal eben auf die Waage zu stellen - bleib stark! Widerstehe diesem Drang, nur so kann und wird er verschwinden.
4.) You'll never walk alone.
Gibt es eine Person in deinem Umfeld, der du dich anvertrauen kannst? Dann sprich mit ihr über dein Vorhaben. Es ist immer leichter einen schweren Weg nicht allein gehen zu müssen. Gerade an harten Tagen kann es helfen, dich mit deiner Vertrauensperson auszutauschen und über deine Gefühle zu sprechen.
5.) Für den Fall der Fälle...
Wie du inzwischen weißt, liebt dein Unterbewusstsein nichts mehr als Sicherheit. Erstelle dir einen Notfallplan, der dir genau diese Sicherheit geben und dich darüber hinaus immer an das Wesentliche erinnern kann.
Schreibe dir eine kleine Notiz (von Hand oder in den Notizen auf deinem Smartphone), warum es dir wichtig ist, dich von der Waage zu lösen. Notiere dir auch, was für negative Auswirkungen es auf dich und deinen weiteren Heilungsweg hat, wenn du dich weiterhin wiegst. Wann immer du das Gefühl hast der Versuchung, dich auf die Waage zu stellen, nicht standhalten zu können, wirfst du einen Blick auf deinen Notfallplan.
6.) Finde die Ursache
Hinter dem Drang dich zu wiegen, steht mit großer Wahrscheinlichkeit ein Glaubenssatz, der dich immer wieder dazu verleitet, dein Gewicht zu kontrollieren. Finde diesen Glaubenssatz und transformiere ihn.
Beispiel:
Dein negativer Glaubenssatz lautet „Ich bin dick.“. Diesen Glaubenssatz könntest du folgendermaßen transformieren: „Mein Körper ist ein Wunder und weiß genau, welches Gewicht richtig für ihn ist. Die Zahl auf der Waage sagt nichts über mich und meinen Wert aus. Ich liebe mich so wie ich bin.“.
Finde eine positive Formulierung, die sich für dich richtig anfühlt und die du mit der Zeit verinnerlichen kannst.
Was sagt dein Gewicht wirklich über dich aus?
Gar nichts! Simple as that.
Es ist mir wirklich wichtig, dass du verstehst, dass es keinen Grund gibt, dich weiterhin über dein Gewicht zu definieren.
Dein Gewicht kann niemals eine Aussage darüber treffen, in welcher physischen oder psychischen Verfassung du bist. Während der Bulimie hatte ich immer Normalgewicht. Und trotzdem war ich krank. Ich habe sowohl physisch als auch psychisch mit den Folgen der Bulimie zu kämpfen.
Abgesehen davon, bist du nicht erst oder nur dann liebenswert, wenn du ein bestimmtes Gewicht erreichst. Du bist ein wundervoller Mensch, mit unglaublich vielen großartigen Charaktereigenschaften, Talenten, Stärken und Schwächen. Dafür wirst du geliebt. Und dafür darfst du dich auch selbst lieben.
Wenn du dich erst einmal von der Waage, von dem Instrument, das du genutzt hast, um dich zu bestrafen oder runterzumachen, gelöst hast, wirst du sehen wie befreit und erleichterst du dich fühlst. Du schaffst das.
Alles Liebe,
deine Saskia
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