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#70 Magersucht und Bulimie: Welche Rolle spielt die Mutter?

Es gibt zwei Arten von Blogbeiträgen: Die, die mir superleicht von der Hand gehen. Und die, die zu schreiben mich eine Menge Überwindung kosten. Um es gleich vorwegzunehmen: Der heutige Blogbeitrag zählt zu Letzteren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel ich prokrastiniert, getippt und wieder gelöscht habe. Oder wie oft mir der Gedanke kam, dass es vielleicht doch leichter wäre, über etwas anderes zu schreiben und stimmt schon – „leichter“ wäre das sicherlich gewesen. Aber irgendwie nicht richtig.

 

Zum einen, weil da hinzuschauen, wo es am meisten wehtut, immer auch Heilung verspricht. Zum anderen, weil das Thema nun mal wichtig und riesengroß ist. Das weiß ich nicht nur aus eigener Erfahrung; das haben mir auch die Reaktionen auf meinen Instagram-Post gezeigt, in dem ich zum ersten Mal die Mutter-Kind-Beziehung aufgegriffen habe. Die Kommentare und Nachrichten, die mich erreicht haben, waren so überwältigend und haben einmal mehr ein Gefühl von „Krass, ich kann mit dem, was ich hier tue, tatsächlich etwas bewegen...“ ausgelöst. Und genau deshalb schreibe ich diesen Blogbeitrag. Genau deshalb kannst du diese Zeilen heute lesen.

Die Frage nach der Schuld

Wenn es um die Entstehung von Essstörungen geht, liest, hört und spricht man im therapeutischen Kontext häufig von der Rolle der Mutter. Während meiner Recherche bin ich auf einen Artikel mit folgendem Titel gestoßen: „Magersucht: Hört endlich auf, den Müttern die Schuld zu geben!“. Ohne zu sehr auf die Details des Artikels einzugehen, habe ich festgestellt, dass hier vor allen Dingen eines mitschwang: Schmerz. Unsagbarer Schmerz.

 

Es ist kein Geheimnis, dass Essstörungen durch ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren entstehen. Daher glaube ich fest daran, dass es Fälle gibt, in denen die Mutter keine Rolle spielt und ganz ehrlich? Ich fühle den Schmerz all der Mütter, die dennoch mit Vorurteilen und dem Fragenhagel von Therapeut:innen konfrontiert werden. Wir dürfen unsere Augen aber nicht davor verschließen, dass – ich sag’s wie’s ist – die Rolle der Mutter nun mal oft von Bedeutung ist. Ich weiß, dass das hart ist. Ich weiß, dass das wehtut. Und dass fast automatisch die Frage nach der Schuld auftaucht. Aber – und das zu betonen ist mir gerade zu Beginn des Blogartikels wichtig - Es geht nicht um Schuld!


Auch wenn ich selbst noch keine Mutter bin, wage ich zu behaupten, dass so gut wie jede Mutter in dem Versuch lebt, das absolut Beste für ihr Kind zu geben. Das absolut Beste zu geben, schützt aber keine Mutter davor, Fehler zu machen. Weil Kinder nicht nur durch die Erziehung, sondern vor allen Dingen durch Abschauen lernen: Wie geht Mama mit Stress um? Wie verarbeitet sie Kummer, Wut und Traurigkeit? Was sind ihre moralischen Werte? Wie spricht sie mit sich selbst bzw. über andere? Während wir als Erwachsene klare Antworten auf diese Fragen finden und das Verhalten unserer Eltern in „gut“ oder „schlecht“ einteilen können, denken wir als Kinder nicht in Schubladen. Wir urteilen und bewerten nicht. Wir empfinden die Welt, in die wir hineingeboren werden als „normal“ – ganz egal, ob es sich dabei um eine liebevolle und fördernde oder eine bedrohliche, möglicherweise sogar gewaltsame Welt handelt. Automatisch suchen wir nach Erklärungen für das Verhalten unserer Eltern. Wir lesen und interpretieren es, eignen uns bestimmte Verhaltensweisen an und entwickeln Glaubenssätze, die uns bis ins Erwachsenenalter begleiten.

 

Wer das versteht, erkennt, wieso unsere Eltern uns nicht nur Dinge mitgeben (können), die uns dienen und im Leben voranbringen. Auch unsere Eltern waren einmal (oder sind sogar noch) Kinder, die verletzt wurden und Glaubenssätze, alte Verletzungen, Wunden oder Schmerz in sich tragen. Also lass uns noch einmal auf die Frage nach der Schuld zurückkommen: Wem kann man mit diesem Wissen einen Vorwurf machen? Wem kann man mit diesem Wissen die Schuld in die Schuhe schieben? Deinen Eltern? Den Eltern deiner Eltern? Oder den Eltern der Eltern deiner Eltern? Du merkst schon: Eine Antwort auf die Schuldfrage zu finden ist so gut wie unmöglich und damit sowohl Zeit- als auch Energieverschwendung. Dabei sind Zeit und Energie zwei Dinge, die wir auf dem Weg der Heilung als Individuum oder Familie dringend benötigen – also lasst uns anfangen, sorgsam damit umzugehen

Wieso sucht man nach "Schwächen in der Familie" ?

In dem Artikel, den ich eingangs erwähnt habe, wurde gefragt, wieso man sich bei Essstörungen nicht auf die akute Erkrankung und deren Therapie konzentriert, sondern „Schwächen innerhalb der Familie“ sucht. Eine Passage aus Anita Johnstons Buch „Die Frau, die im Mondlicht aß“ beschreibt es ganz treffend: „Nehmen wir an, wir sehen einen Krimi und es stellt sich die Frage: Wer hat die alte Lady umgebracht? War es die Zofe, der Butler oder der Chauffeur? Im Verlauf des Films richtet sich sämtliche Aufmerksamkeit auf die Zofe, weil sie sich fast ständig bei der alten Dame aufgehalten hat und sich sehr verdächtig verhält. Am Ende der Geschichte erleben wir eine Überraschung, weil es nämlich gar nicht die Zofe war, die den Mord beging, sondern der Butler, den niemand im Verdacht hatte, weil alle Augen nur auf die Zofe gerichtet waren. Die Zofe ist das Ablenkungsmanöver, die falsche Spur.“


Bei Essstörungen wird das Essen zur falschen Spur. Es kann die Betroffenen selbst, aber auch Angehörige, Freunde und sogar Ärzte, die versuchen zu helfen, ablenken. Wenn wir uns nur darauf konzentrieren, wie jemand mit Essen umgeht, erkennen wir oft nicht, dass der Essstörung tiefer liegende Konflikte, Spannungen und unangenehme Gefühle zugrunde liegen. Der Diplompsychologe und Psychologischer Psychotherapeut Günter Reich hat mehrere Bücher zur Familienbeziehung von essgestörten Patient:innen veröffentlicht und in einem seiner Werke belegt, dass Essstörungen in ihrer Entstehung und ihrem Verlauf von familiären Faktoren zumindest beeinflusst werden. Sowohl direkt über die Vermittlung von Einstellungen zu Essen, Gewicht, Figur und Aussehen als auch indirekt über die familiären Beziehungen.

Und was ist mit dem Vater?

Wieso die Mutter dabei eher im Fokus steht als der Vater, kann verschiedene Gründe haben: Spirituell gesehen ist Nahrung die Mutter. Sie ist etwas, das uns nicht nur mit Nährstoffen, sondern auch mit Sicherheit, Geborgenheit und Liebe am Leben hält. Vielleicht bist du auch in einer Familie aufgewachsen, in der es eine klassische Rollenverteilung gab – Papa geht arbeiten, Mama kümmert sich um die Kinder – sodass du mehr Zeit mit deiner Mutter verbracht und dadurch eine stärkere emotionale Abhängigkeit zu ihr entwickelt hast.

Wieso Heilung die ganze Familie angeht...

Wenn wir akzeptieren, dass die Familie bei der Entstehung von Essstörungen eine Rolle spielt, erkennen wir, dass sie bei der Heilung eine große Unterstützung, aber auch ein Hindernis sein kann. Sind Eltern nicht bereit, Verhaltensmuster zu verändern bzw. abzulegen, die zumindest teilweise dazu beigetragen haben, dass ein Kind die Essstörung als Bewältigungsstrategie gewählt hat, kann das einen negativen Einfluss auf den Krankheitsverlauf sowie den Heilungsprozess haben. Ich glaube, dass viele Elternteile an diesem Schritt scheitern, weil sie dadurch aus der Rolle eines Außenstehenden zum Beteiligten und unter Umständen mit ihren eigenen Schattenanteilen konfrontiert werden. Wieso ich heute überzeugt davon bin, dass dieser Schritt wichtig ist, kann ich dir tatsächlich am besten anhand meiner eigenen Geschichte erklären...

Meine Mama ist eine gute Mutter, zu der ich bis heute ein enges Verhältnis habe. Um ihre Rolle in meiner Geschichte besser verstehen zu können, musst du wissen, dass die Beziehung zu ihren Eltern schon immer recht schwierig war und es auch nach wie vor ist. Meine Mama ist mit einem dominanten Vater und einer eher angepassten Mutter aufgewachsen. All die Regeln, Verbote und Strenge, die in ihrer Kindheit an der Tagesordnung standen, haben in ihr schon recht früh den Wunsch geweckt, es bei mir und meinem Bruder einmal anders zu machen.

 

Wahrscheinlich geht es dir wie mir und du hast an deine frühe Kindheit wenig bis gar keine Erinnerungen mehr. Wir können uns in der Regel nicht bewusst an die Dinge erinnern, die in unseren ersten drei Lebensjahren passiert sind, was aber nicht bedeutet, dass die Erinnerungen unwichtig sind oder für unser späteres Leben keine Rolle spielen. Tatsächlich ist der Hippocampus, also der Arbeitsspeicher unseres Gehirns, bereits ab dem 6. Schwangerschaftsmonat ausgebildet und sammelt Informationen. So konnten Mediziner feststellen, dass ein erhöhter Stresspegel der Mutter auch das Baby im Mutterleib erreicht und zu unterschiedlichen Reaktionen führen kann: Die einen werden unruhig, die anderen machen sich klein, ziehen Arme und Beine dicht an den Körper heran. 

 

Oft können wir nicht nachvollziehen, wieso wir uns in bestimmten Situationen so verhalten, wie wir uns nun mal verhalten. Tatsächlich können bereits sehr frühe Verletzungen oder schmerzhafte Erfahrungen Prägungen hinterlassen, die als Reaktionen in unserem späteren Leben auftauchen und die wir uns nicht erklären können.

 

Vielleicht hast du die Möglichkeit, mit deinen Bezugspersonen über die Erkenntnisse zu sprechen, die du bis hierher gewonnen hast. Nachzufragen, wie es war, mit dir schwanger zu sein. Ob du als Baby genug Zuwendung bekommen hast oder zu vielen Reizen ausgesetzt warst, was sich im Erwachsenenalter häufig in Form einer geringen Stresstoleranz bemerkbar macht.

 

Vielleicht ist ein solches Gespräch zu führen für dich aber nicht machbar. Weil deine Bezugspersonen nicht mehr zugänglich sind oder es dir ähnlich wie mir, einfach nicht richtig vorkommt. Ich möchte meine Eltern nicht fragen, wie es ihnen ging, als mein Opa nicht einmal ein Jahr vor meiner Geburt Suizid beging, weil ich weiß, dass das alte Wunden aufreißen kann. Im letzten halben Jahr habe ich gelernt, dass das Wissen des Verstandes (also Gespräch führen, Erkenntnis gewinnen und über die Erkenntnis eine Verhaltensänderung erwirken) nur einen Teil der Heilung ausmacht. Dem gegenüber steht nämlich das gefühlte Wissen, welches besagt, dass jede Information, die wir brauchen, in unserem Körper abgespeichert ist. Mit diesen Körperinformationen können wir arbeiten. Indem wir spüren und so einen tieferen Zugang zu Prägungen bekommen, zu denen wir keine Erinnerung haben. Du kannst mir glauben: Der Körper vergisst nichts!

Überangepasstheit im Kindesalter

Meine ersten „richtigen“ Erinnerungen sind aus dem Kleinkindalter. Ich weiß noch, dass meine Mama früher oft zu mir gesagt hat, dass ich für sie wie eine „beste Freundin“ bin und ganz ehrlich? Für mich hat es sich genauso angefühlt. Ich würde deswegen auch bis heute behaupten, dass ich eine schöne Kindheit hatte. Und das hat auch bei mir dazu geführt, dass ich jede Vermutung, es könne sich bei meiner Essstörung unter anderem um einen Ausdruck einer gestörten Familiendynamik handeln, abgestritten habe.

 

Ich durfte lernen, dass es neben dem Schocktrauma, also einem einzelnen, einschneidenden Ereignis wie Gewalt oder Missbrauch, das sogenannte Entwicklungstrauma gibt. Hierbei handelt es sich um kleinere, nicht erlebte Bedürfnisse, die aus Sicht eines Erwachsenen häufig als „unproblematisch“ eingestuft werden, für ein Kind aber gefährlich sind. Julia von Seelenmut hat einmal zu mir gesagt: Trauma bewertet nicht unser Kopf, es geschieht allein in unserem Körper und Nervensystem.

 

Denn während es auf der einen Seite wirklich schön war, eine so enge Bindung zu meiner Mama zu haben, hat es auf der anderen Seite gewisse Grenzen verwischt. Während mein Bruder das freundschaftliche Verhältnis genutzt hat, um auszubrechen und zu rebellieren, habe ich es zu meiner Aufgabe gemacht, die Grenzen, die er verletzt hat, wieder gerade zu rücken. Meine Mama, die nach einem Streit mit meinem Bruder natürlich traurig war, wieder glücklich zu machen. Meine Hausaufgaben immer zuverlässig zu erledigen, gute Noten zu schreiben und mein Zimmer sauber zu halten, um nicht auch noch zur Last zu fallen. Für jeden außer mich selbst da zu sein.

 

Heute erkenne ich, dass ich mir viel zu früh viel zu viel Verantwortung auferlegt habe und dadurch schon in der Grundschule aus der Rolle eines Kindes in die Rolle einer Erwachsenen schlüpfen wollte. Ich habe mir nicht erlaubt, meine eigenen Bedürfnisse kennenzulernen, eine eigene Meinung zu entwickeln, auch mal Nein zu sagen oder mich gegen meine Eltern aufzulehnen.

 

Vereinzelt kann ich mich an Situationen erinnern, in denen Essen schon damals zu meinem Ersatz für Sicherheit, Geborgenheit und Halt wurde. Beispielsweise habe ich oft heimlich genascht oder bei Freundinnen mitgegessen und zu Hause dann behauptet, dass ich noch nichts gegessen habe, um noch einmal essen zu dürfen. 

Körperliche und psychologische Grundbedürfnisse

Soweit ich mich erinnern kann, wurde Essen jedoch erst in der vierten Klasse so richtig zum Thema. Zu dieser Zeit hat meine Mama über meinen Sportverein eine „neue beste Freundin“ gefunden. Eine bildhübsche Frau, die immer toll gekleidet war und - zumindest gefühlsmäßig - nach und nach meinen Platz an der Seite meiner Mama eingenommen hat. Die beiden haben jeden Tag telefoniert, viel Zeit miteinander verbracht und sich unter anderem gemeinsam im Fitnessstudio angemeldet. Etwas später hing dann ein Zeitungsschnipsel an unserem Kühlschrank. Ein Bild von Gwyneth Paltrow, deren drahtiger Körper meine Mama motivieren sollte und ausschlaggebend dafür war, dass nach und nach immer mehr Light-Produkte ihren Weg in unseren Haushalt gefunden haben oder plötzlich mit Quark statt Butter und Buttermilch statt Öl gebacken wurde.

 

Für mich war es irgendwie schwer zu verkraften, dass mein Körper langsam weiblicher wurde, während der von meiner Mama fast jungenhaft sein sollte. Ich fing an, meinen Körper zu hinterfragen. Meine Oberschenkel mit Klebeband abzubinden, damit sie dünner wirkten oder auf meine Hüftknochen einzuschlagen, um zu verhindern, dass sie breiter werden.

 

Wenn ich heute darüber nachdenke, empfinde ich vor allen Dingen eines: Tiefes Mitgefühl. Ich habe früh gelernt, meiner Mama eine beste Freundin zu sein – aber nie, mich selbst liebevoll zu behandeln und mich aufzufangen, wenn es mir schlecht geht. Ich war nun mal nie eines dieser unglaublich zierlichen Mädchen. Es gab Situationen, in denen Mitschüler:innen oder sogar Freund:innen hinter meinem Rücken abfällig über meinen Körper gesprochen haben. Es gab Situationen, in denen ich einkaufen war und jede Hose zu klein war. Meine Mama hat all das mitbekommen. Natürlich kann ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass es etwas an meiner Geschichte geändert hätte, wenn sie mir den Mut geschenkt hätte, der mir damals gefehlt hat. Was ich aber sagen kann, ist, dass ihre Reaktionen – wie etwa zu sagen, dass wir dann einfach ein bisschen weniger essen oder etwas mehr Sport machen – es zumindest nicht besser gemacht haben...

 

Obwohl nicht nur meine Eltern, sondern auch ich völlig überfordert damit waren, dass die Bulimie mit gerade einmal 12 Jahren in mein Leben kam, erscheint mir die Essstörung als Bewältigungsstrategie aus heutiger Sicht, wo ich das Krankheitsbild besser verstehe, gar nicht mehr so abwegig.

Wir alle kennen körperliche Bedürfnisse. Meistens werden wir von Symptomen wie Müdigkeit oder Hunger darauf hingewiesen, dass uns etwas fehlt. Sie veranlassen uns, ihnen nachzugehen. Bei psychischen Grundbedürfnissen verhält es sich ähnlich. Sind sie nicht erfüllt, treten unangenehme Gefühle auf. Da wir mit ihnen – im Gegensatz zu körperlichen Bedürfnissen – meist weniger Erfahrung haben und sie keine überlebenswichtigen Konsequenzen nach sich ziehen, fällt uns der Umgang damit deutlich schwerer. Auf lange Sicht können massiv frustrierte Grundbedürfnisse Symptome verursachen und sogar zu psychischen Erkrankungen führen.

 

Klaus Grawe unterscheidet die psychologischen Grundbedürfnisse in Bindung, Selbstwert, Kontrolle, Lust und Selbstbestimmung. Die Schlussfolgerungen, die ich als Kind angestellt habe, führten dazu, dass mein Bedürfnis nach Kontrolle schon sehr früh an Bedeutung gewonnen hat („Ich muss meine Wünsche unterdrücken, damit es Mama gut geht!“), wohingegen das Bedürfnis nach Bindung, Lust, Selbstbestimmung und -wert hinten angestellt wurde.

 

Die mit meiner Bulimie einhergehenden Essanfälle haben es geschafft, mein Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Lust („Ich kann essen, worauf ich Lust habe!“) sowie das Bedürfnis nach Bindung (da Essen für sozialen Zusammenhalt, Geborgenheit und Nähe steht) zu befriedigen. Über das Erbrechen konnte ich mir die Kontrolle, die nach wie vor einen hohen Stellenwert innehatte, zurückholen.

 

Bis ich 16 war, hatte mich die Bulimie mal mehr, mal weniger im Griff. Mein Wunsch ist es heute, Betroffene und Angehörige aufzuklären und ihnen vor allen Dingen eines mitzugeben: Dass hinter einer Essstörung mehr steckt als der Wunsch, dünn zu sein. Weder ich noch meine Eltern haben das damals gewusst und so bin ich anfangs gar nicht, später nur sporadisch zur Therapie gegangen. Klar hat meine Mama alles probiert, damit es mir besser geht. Sie hat mir kleine Geschenke mitgebracht für jeden Tag, an dem ich mich nicht übergeben habe. But you see what she did there? Sie hat mir die Aufmerksamkeit und Zuwendung geschenkt, die ich vorher vermisst habe und dadurch unbewusst eher zur Aufrechterhaltung als zur Heilung meiner Essstörung beigetragen.


Nachdem sie erkannte, dass mich dieser Ansatz nicht gesund machen kann, hat sie einen neuen gewählt. Du musst wissen, dass meine Mama zu diesem Zeitpunkt längst wie Gwyneth Paltrow auf dem Zeitungsschnipsel an unserem Kühlschrank aussah. Weil sie in all den Jahren nie von ihrem disziplinierten Sport- und Essverhalten abgewichen ist – und das, obwohl sie mir aus tiefstem Herzen gewünscht hat, meine Essstörung endlich hinter mir lassen zu können. Ihre neue Strategie war also, mir zu sagen, dass ich fortan einfach so essen soll wie sie. Dass wir mich im Fitnessstudio anmelden und es dann nicht mehr darauf ankommt, wie viel, sondern was ich esse. Die Proteinshakes und -riegel, die ich von da an konsumiert und der Sport, den ich von da an gemacht habe, haben mich auf direktem Weg in die Quasi-Recovery und später in die nächste Essstörung befördert.

 

Im Alter von 16 Jahren kam die Magersucht in mein Leben. Ähnlich wie die Bulimie hat es auch die Magersucht geschafft, meine psychischen Grundbedürfnisse zu befriedigen: Selbstbestimmung im Sinne von „Ich allein bestimme, was und wie viel ich esse.“, Kontrolle („Ich bin in der Lage, den Hunger auszuhalten!“) sowie Bindung (zunächst Anerkennung durch den ‚Thin Privilege‘, später Zuwendung und Aufmerksamkeit in Form von mütterlicher Fürsorge). 

Abgrenzung und aufrichtige, ehrliche Heilung

In der Klinik wurde zum ersten Mal die Vermutung aufgestellt, dass meine Essstörung mitunter familiär begründet sein könnte. Später habe ich erfahren, dass mein Bruder und meine Großeltern einen ähnlichen Verdacht hatten. Um ehrlich zu sein, konnte und wollte ich die Zusammenhänge damals nicht sehen. Ich hatte ohnehin keine Kraft und viele meiner Freund:innen verloren, sodass ich noch mehr Schmerz nicht verkraftet hätte. Außerdem waren der Wunsch, abzunehmen sowie der Drang, Sport zu machen, ja tatsächlich immer da. Deshalb kam es mir auch richtig vor, weiterhin an diesen Baustellen herumzudoktern. Meinen Körper einfach so lange zu perfektionieren, bis ich endlich zufrieden damit war.

 

Ich bekomme oft Nachrichten von Betroffenen, die Angst davor haben, von einer Essstörung in die nächste zu rutschen. Ich kann das bestens nachvollziehen, weil ich genau das erlebt und durchlebt habe. Meine Geschichte zeigt dir, dass eine Essstörung zurückkommen oder sich verlagern kann, solange lediglich das Symptom behandelt wird. Deine Essstörung ist das Ergebnis eines inneren Ungleichgewichts. Sie ist das Ergebnis unerfüllter Bedürfnisse und eine Bewältigungsstrategie. Deine Essstörung ist also nicht einfach nur so da. Sie bringt dir eine Botschaft mit und es ist an uns, diese Botschaft zu entschlüsseln. Meiner Meinung nach ist ganzheitliche, aufrichtige und nachhaltige Heilung möglich, wenn wir das schaffen.

Ich würde behaupten, dass ein wichtiger Schritt für mich war, mit 18 bei meinen Eltern auszuziehen. Obwohl die Essstörung zu diesem Zeitpunkt längst nicht „vorbei“ war, konnte ich dadurch zumindest ein Gespür für meine eigenen Bedürfnisse entwickeln. Wann immer meine Essstörung lauter wurde, blieb der Lösungsversuch meiner Mama ein- und derselbe. Vielleicht aus Verzweiflung, vielleicht aus Unwissenheit, vielleicht, weil wir so viel probiert haben, aber nichts geholfen hat. So war sie es, die mich 2018 zu dem Coach brachte, der mich ein Jahr später auf die Wettkampfbühne begleitet hat, was in meinen letzten Rückfall mündete. Auch wenn es sich komisch anhört, bin ich dankbar für all die Erfahrungen und Umwege, die ich nehmen musste, um letztendlich zu der für mich wichtigsten Erkenntnis zu kommen: It’s all in my hands!

 

Es gab niemanden, der mich dazu aufgefordert hat, noch einmal eine Therapie zu starten oder ein Coaching in Anspruch zu nehmen. Es gab niemanden, der mich dazu aufgefordert hat, eine Sportpause einzulegen, mit dem Kalorienzählen aufzuhören oder zuzunehmen. Ich habe mich aus freien Stücken für meine Recovery und alles, was damit zusammenhing, entschieden, weil ich erkannt habe, dass mich die unzähligen Versuche, meinen Körper zu perfektionieren, letztlich immer weiter von mir entfernt haben. Dass meine Vergangenheit vielleicht bestimmt, wer ich im Hier & Jetzt bin aber nicht, wer ich in Zukunft sein kann. Und dass die Überzeugungen und Schatten meiner Mama nicht zu meinen werden müssen.

 

Du kennst mich und weißt, wo ich heute stehe. Ich habe es geschafft, zurück zu mir zu finden. Das heißt nicht, dass heute alles gut ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich gewachsen bin, während meine Mama stehen geblieben ist. Das merke ich, wenn sie sich über Kleinigkeiten aufregt, an die ich keinen zweiten Gedanken verschwende. Wenn wir Pizza bestellen und sie nicht mitisst. Oder man ihr keinen „normalen Kuchen“ zum Geburtstag backen darf. Es gab eine Zeit, in der mich das stärker beschäftigt hat als aktuell. Ich habe einfach verstanden, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Dass meine Bedürfnisse okay sind. Dass es mir gut gehen darf, auch wenn es meiner Mama mal nicht gut geht. Dass es in Ordnung ist, „Nein“ zu sagen. Und dass es wunderbar ist, eine Mama zu haben, die genauso gut eine „beste Freundin“ sein könnte – es aber mindestens genauso wichtig ist, mir selbst eine beste Freundin zu sein.

 

Die Sache ist nur, dass ich mich heute so frei und glücklich wie noch nie fühle. Dass mein Leben schöner ist, als es ein dünner Körper je sein könnte. Und das ist es, was ich mir nicht nur für dich, sondern auch für meine Mama wünsche. Dass sie endlich sieht: Ich bin gut genug. Ich war es schon immer. Und ich werde es auch immer sein.

 

Alles Liebe,

deine Saskia

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Kommentare: 5
  • #1

    Leandra (Sonntag, 06 November 2022 12:42)

    Ein wunderbarer, berührender Beitrag der so sehr die Augen öffnet. Ich habe mich in so unheimlich vielen Dingen wiedergefunden und neue Erkenntnisse gewonnen. Danke für deine Ehrlichkeit und das du geschrieben hast, obwohl es nicht leicht war. Für jeden der diesem Beitrag liest wird es sich lohnen.

  • #2

    mirchen01 (Montag, 07 November 2022 01:37)

    Das hat mich sehr berührt und ich sehe mich in vielem wieder, danke dass ich mich dadurch gerade weniger alleine fühle und du mir Hoffnung machst und hilfst die Hintergründe zu verstehen

  • #3

    Elena (Montag, 07 November 2022 05:50)

    Wow!!Danke für diesen Beitrag und das Teilen deiner Gefühle und Gedanken! In vielen Dingen erkenne ich meine Situation wieder und es beruhigt mich zu sehen, dass man es herausschaffen kann und nicht alleine ist.

  • #4

    Michaela Pukrop (Montag, 07 November 2022 12:45)

    Liebe Saskia,
    von Herzen Danke für diesen ehrlichen und berührenden Blogbeitrag. Als Du mich damals in Deinem Zoom interviewt hast, habe ich nach Deiner Beziehung zu Deiner Mama gefragt. Damals hast Du es noch nicht gesehen. Ich bin so, so tief berührt über Deine Reflektion und Erkenntnisse. Gleichzeitig bin ich Dir so dankbar, dass Du offen darüber schreibst. Durch Deinen Beitrag werden sehr viele betroffene Mädchen und Frauen ihre familiären Beziehungen näher betrachten und reflektieren können, wenn sie es möchten. Wie viele Mädchen stellen sich die Frage: "Was ist falsch mir mir?" Wie viele Mütter stellen sich die Frage: "Was ist falsch mit ihr?".
    Die Erkrankung der Tochter hat eine elementare Botschaft für uns Mütter. Diese zu erkennen ist ein wunderbares, großes Geschenk. Wenn wir Mütter mutig sind und uns unseren eigenen Themen stellen, wird es uns und unseren Töchtern den Weg erheblich erleichtern. Dann heilt die Tochter über die Heilung der Mutter.
    Von Herzen Michaela

  • #5

    Eva Wahl (Samstag, 04 November 2023 18:39)

    Danke für diesen Beitrag.