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#12 Meine Geschichte - Teil 3

 Du hast das, was ich bislang von meiner Geschichte veröffentlicht habe, noch nicht gelesen?

 

Wenn du hier klickst, gelangst du direkt zu Teil 1. Klickst du hier, kommst du zum zweiten Teil.

 

Ich war wieder zuhause. Ich fühlte mich sicher und verängstigt zugleich. Sicher, weil ich wirklich das Gefühl hatte durch mein gewohntes Umfeld jeden Tag genau das vor Augen zu haben, was mich motivierte, gesund zu werden. Verängstigt, weil ich monatelang nicht am realen Leben teilgenommen hatte. In meiner eigenen Welt gelebt habe. Ich hatte Angst meine Freunde und Mitschüler wieder zu sehen. Ich hatte Angst, dass meine Eltern zu viel von mir erwarten würden und Angst, zu schnell zuzunehmen. Zu schnell gesund zu werden. Heute klingt das verrückt. Wie kann man Angst davor haben, gesund zu werden? Wer will schon krank bleiben und Lebenszeit verschenken? Damals jedoch war die Essstörung alles, was ich noch hatte. Alles, worüber ich Tag und Nacht nachdachte. Außerdem fühlte ich mich nach wie vor zu dick. Ich verstand nicht, wieso ich zunehmen sollte und fragte mich, ob es denn nicht möglich war gesund zu werden ohne zuzunehmen.

 

Viel schneller als ich gucken konnte war der Wille gesund zu werden, den ich in der Klinik in Passau entwickelt hatte, wieder verflogen. Ich hatte es mir einfacher vorgestellt wieder zur Schule zu gehen. Ich fand keinen Anschluss mehr. Hatte Schwierigkeiten mich zu konzentrieren und den verpassten Stoff aufzuholen. Ich war orientierungslos, fühlte mich vollkommen verloren und (wieder einmal) nicht gut genug. 

 

Ich war am Leben, doch nicht lebendig. Jeder Tag war wie ein Kampf. Ich ging wieder wöchentlich zur ambulanten Therapie, verschloss mich dem Therapeuten gegenüber jedoch komplett. Ich ließ Mahlzeiten ausfallen. Baute weiter ab. Also wurde mir Fresubin verschrieben (eine hochkalorische Trinkmahlzeit, die bei Mangelernährung oder Störungen der Nahrungsaufnahme verabreicht wird). Aber auch das half nicht. Ich war eine Meisterin darin geworden, Lebensmittel unbemerkt verschwinden zu lassen. Ich wurde immer schwächer, aber es war mir egal. Ich hatte mich selbst schon längst abgeschrieben. 

 

Im Februar 2014 verließ ich zum Halbjahr das Gymnasium, um mich um einen Ausbildungsplatz zu bemühen. Die Intention dahinter: etwas Neues anzufangen; irgendwo, wo mich keiner kennt. Wo keiner Bescheid weiß. Wo ich einfach ich sein kann. Für meinen Heilungsweg war das die beste Entscheidung überhaupt.

 

In der Tat bekam ich einen Ausbildungsplatz und überbrückte die Monate bis zum Ausbildungsbeginn mit einem Praktikum, einem Nebenjob und einer Menge Freizeit, in der ich anfing, mich über Instagram und Facebook mit Gleichgesinnten zu verbinden. Es entstand eine richtige Gemeinschaft aus Mädchen mit Essstörung, die das absolute Gegenteil von „Pro Ana“ war, sondern sich gegenseitig liebevoll unterstützte und zum Gesundwerden motivierte. Viele dieser Mädchen waren lebende Beweise dafür, dass es einen Ausweg gibt. Dass man die Essstörung besiegen kann. Und vor allen Dingen, dass sich die Heilung lohnt. Genauso wie mich diese Mädchen inspirierten, wollte ich eines Tages Betroffene inspirieren. Eines Tages Hoffnung geben und zeigen, dass Heilung möglich ist.

Nach und Nach kämpfte ich mich zurück ins Leben...

 

Ich fing an meine Recovery ernst zu nehmen. Nach und nach steigerte ich meine Kalorien. Ließ keine Mahlzeiten mehr aus. Trank mein Fresubin. Reduzierte mein Bewegungspensum. Es war schwer, doch der Austausch mit den anderen half mir ungemein. An schweren Tagen waren wir füreinander da, redeten uns gut zu und entschieden uns gemeinsam nicht aufzugeben. Langsam aber sicher nahm ich sogar zu. Natürlich bereitete mir das Angst. Ich fühlte mich unwohl. Hatte Bauchschmerzen, weil mein Körper die Nahrung nicht mehr gewohnt war. Vergoss viele Tränen. Saß teilweise stundenlang vor einer Mahlzeit und zitterte am ganzen Leib. Aber ich kämpfte mich durch. Es wurde mit jedem Bissen leichter. Und auch mein Wille gesund zu werden, wurde mit jedem Bissen größer.

 

In den darauffolgenden Monaten konnte ich viele irrationale Ängste aus meinem Leben streichen. Gleichzeitig entwickelte ich Spaß daran Dinge zu probieren, die ich nie zuvor gegessen hatte. Ich fand heraus, was mir besonders gut schmeckte und was überhaupt nicht. Wagte mich ans Kochen und Backen.

Gleichzeitig kehrten meine Energie und Lebensfreude zurück. Ich erinnere mich, wie gut es sich anfühlte, als ich zum ersten Mal seit Jahren wieder von Herzen gelacht habe. Wie schön es war, mich das erste Mal wieder mit meinen Freunden zu treffen. Wie ich liebevoll den Geburtstag meiner Mama vorbereitete oder Weihnachtsgeschenke einkaufte, um das Leben und gewisse Anlässe besonders zu feiern. Meine Essstörung wurde immer leiser.

 

Ich erkannte, dass wahre Stärke nicht darin liegt, dem Hunger standzuhalten, nicht zu essen und immer weiter abzubauen. Sondern darin, sich seinen Dämonen zu stellen, wieder in die eigene Kraft zu kommen und sich selbst zu beweisen, dass es geht auch wenn man ein innere Überzeugung in sich trägt, die immer und immer wieder sagt: "Du schaffst das nicht!".

Bis ich an diesen Punkt gelangt bin, mussten 5 Jahre vergehen. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass von da an alles perfekt war und ich nie rückfällig geworden bin. Es gab und gibt auch heute noch Überbleibsel der Essstörung, die mir an manchen Tagen das Leben schwer machen. Genauso hatte ich Rückfälle. Sowohl was die Bulimie als auch was die Magersucht angeht. Aber - ich bin nie wieder so tief gefallen, wie damals.


Ich hatte noch lange Zeit mit Orthorexie zu kämpfen. Orthorexie ist (kurz gesagt) der Zwang "gesund" zu essen. Durch die Vorausplanung meiner Nahrungsaufnahme unter Einhaltung der mir selbst auferlegten Ernährungsvorschriften, sowie der Einteilung von Lebensmitteln in „gesund“ und „ungesund“, war ich nach wie vor nicht frei. Bis ich jedoch erkannte, dass die Orthorexie meine Essstörung war, die sich in veränderter Form zurück in mein Leben bahnte, musste viel Zeit vergehen. Wahrscheinlich auch, weil die Orthorexie sozial verträglicher ist als Bulimie oder Magersucht. Weil man von Außenstehenden sogar dafür anerkannt wird, sich gesund zu ernähren und fit zu halten.

 

Auch die Themen Bewegungsdrang und Sportsucht beschäftigen mich zum Teil noch heute, wenn auch nicht mehr in demselben Ausmaß wie noch zu den dunkelsten Zeiten meiner Essstörung. In den vergangenen Jahren ging das Thema Sport und Fitness viral, was auch mich dazu veranlasste, vermehrt ins Fitnessstudio zu gehen und Muskeln aufbauen zu wollen. Strong not skinny. Das Problem? Ich glaubte irgendwann, mir mein Essen verdienen zu müssen. Nur essen zu dürfen, wenn ich vorher eine anstrengende Einheit im Gym hinter mich gebracht hatte oder laufen war. Ebenso fiel es mir schwer Lebensmittel zu essen, die, wie ich glaubte, meinen Muskelaufbau nicht fördern würden. Proteinriegel, Eiweiß-Shakes, Magerquark – kein Problem. Aber Kohlenhydrate oder gesättigte Fette? No way.

 

Mein Fitnesswahn sorgte letztendlich auch für meinen schlimmsten Rückfall:

 

2018 beschloss ich als Bikiniathletin an einem Bodybuilding-Wettkampf teilzunehmen. Mit dieser Entscheidung startete ich einen gezielten Muskelaufbau und nahm innerhalb von 7 Monaten etwa 8 Kilo zu. Die Zunahme fiel mir erstaunlich leicht. Heute weiß ich, dass das vor allem daran lag, dass ich insgeheim ja wusste, dass die Wettkampfdiät kommen würde. Dass ich das Gewicht, das ich jetzt drauf packte, auch wieder abnehmen würde. Die Diät durchzuhalten war für mich kein Problem. Immerhin hatte ich das Gefühl von Hunger und einer eingeschränkten Lebensmittelaufnahme zu genüge in der Vergangenheit erlebt. Am 05.10.2019 ging ich das erste Mal auf eine Wettkampfbühne. Am 03.11.2019 das letzte Mal.

 

Ich würde es nie wieder tun. Mit dem Schritt auf die Bühne habe ich Außenstehenden die Erlaubnis erteilt, sich ein Urteil über meinen Körper zu bilden. Zu entscheiden, ob ich schlank genug, muskulös genug, schön genug war. Ob ich die Beste war oder die anderen eher dem entsprachen, was gefragt war. 

Mein Erfolg blieb aus und ich fiel in ein tiefes Loch. Nachdem ich monatelang einem strikten Ernährungsplan gefolgt war, hatte ich große Schwierigkeiten, nun wieder intuitiv zu essen. Ich zählte Kalorien. Wog jedes Stück Gurke ab, um sicherzugehen, dass ich mir das "erlauben" konnte. Ebenso trainierte ich weiterhin täglich im Fitnessstudio, weil ich mich nicht von meinem durchtrainierten Körper verabschieden wollte. Ich hatte einen Sixpack, einen starken Rücken, einen knackigen Hintern. Was ich nicht hatte waren Lebensfreude, Spontanität, Freiheit. 

Ich war so unglücklich, dass die Stimme der Essstörung wieder laut wurde. Mir einredete, dass sie mein sicherer Hafen wäre. Mein Zufluchtsort. Und ich ließ mich mitreißen.

 

Obwohl ich es nach all den Jahren eigentlich hätte besser wissen sollen, fing ich erneut an mich runterzuhungern. Extrem wenig zu essen oder Mahlzeiten komplett ausfallen zu lassen. Gleichzeitig aber viel zu viel Sport zu machen. Vereinzelt habe ich mich sogar nach dem Essen erbrochen. Ich fühlte mich schrecklich.

Mitte des Jahres bin ich erstmals auf die Themen Spiritualität und Persönliche Weiterentwicklung gestoßen. Ich lernte meine negativen Glaubenssätze und mein inneres Kind kennen. Ich begann mit dem Meditieren und fand Zugang zu meinem Innersten. Teilweise kamen Erinnerungen hoch, die ich längst vergessen oder verdrängt habe. Mir wurde bewusst, dass ich mich in all den Jahren meiner Essstörung nie mit den wirklichen Hintergründen auseinandergesetzt habe. Ich habe lange Zeit genau das geglaubt, was auch von der Gesellschaft über Essstörungen gedacht wird: dass es einfach nur ums Essen geht. Vielleicht bist du mir was das angeht einen Schritt voraus; ansonsten sage ich dir jetzt: Das Essen ist nicht dein Problem!

 

Das anzuerkennen und anzufangen, mich mit mir selbst zu beschäftigen, hat mir eine völlig neue Welt eröffnet. Plötzlich sah ich mich selbst aus einem liebevolleren Blickwinkel, konnte all den Schmerz und das Leid erkennen, das ich die letzten Jahre mit mir herumgetragen hatte und entwickelte mir selbst gegenüber tiefes Mitgefühl. Ich wollte nicht akzeptieren, dass das meine Geschichte ist. Und so nahm ich erneut all meinen Mut zusammen und entschied mich für Heilung.

 

Im Juli habe ich das letzte Mal meine Kalorien getrackt. Im August das letzte Mal erbrochen. Im September habe ich entschieden, dass ich ein Vorbild sein möchte. Ein Vorbild für dich, indem ich dir zeige, dass auch du die Wahl hast und dich gegen ein Leben mit Essstörung entscheiden kannst. Ich habe meinen Blog gestartet, um dich auf meine Reise mitzunehmen. Im Oktober habe ich das erste Mal einen richtigen Kuchen gebacken – mit Mehl, Zucker, Margarine. Und habe diesen auch gegessen. Im November war ich bei meiner Frauenärztin und habe mir an diesem Tag das Versprechen gegeben, zuzunehmen, bis mein Körper mir wieder vertraut. Bis er wieder funktioniert und ich meine Periode zurückbekomme, um eines Tages Mama werden zu können. Und im Dezember habe ich mich für die Rise up & Shine University angemeldet, weil ich absolut davon überzeugt bin, dass die intensive Beschäftigung mit mir und meinen inneren Überzeugung mich auf meinem Heilungsweg noch weiter voranbringt.

 

Die Heilung deiner Essstörung passiert nicht von heute auf morgen. Doch egal ob du kleine Schritte machst, einen riesigen Erfolg verbuchst, oder auch mal still stehst, wichtig ist, dass du dich entscheidest, diesen Weg zu gehen. Denn dann wirst du in ein paar Monaten zurückblicken und dich voller Stolz dafür anerkennen, was du schon alles geschafft hast.

Du bist nicht allein, ich gehe den Weg mit dir. Wir schaffen das gemeinsam.

 

H E I L U N G  I S T  M Ö G L I C H ! ! ! 


Ich möchte, dass du aus dem letzten Teil meiner Geschichte Folgendes mitnimmst:

  • Du bist nicht allein.

Auch wenn du dich im Moment allein und von allen unverstanden fühlst, gibt es da draußen sehr viele Menschen, die genau nachempfinden können, was du gerade durchmachst. Essstörungen sind (leider) sehr weit verbreitet. Für dich bedeutet das aber, dass du dich mit Gleichgesinnten verbinden und inspirieren lassen kannst. Für mich war das eines der hilfreichsten Tools für die Heilung meiner Essstörung. Überlege dir einmal: Wäre es nicht schön eines Tages selbst ein Vorbild für andere sein? Ein Mutmacher? Jemand, der andere inspirieren kann?

 

Bitte wähle jedoch mit Bedacht, wem du folgst und mit wem du dich connectest. Es geht nicht darum dich mit anderen zu vergleichen oder einen Wettkampf daraus zu machen, wer am wenigsten wiegt und am häufigsten in der Klinik war. Ebenso rate ich dir dringend ab, dich auf „Pro-Ana“-Accounts herumzutreiben. Dort findest du nichts als schreckliche Bilder und Texte, die dich triggern und runterziehen, was sich nur negativ auf dich und deinen Heilungsweg auswirkt. 

 

Der zweite Punkt:

  • Du musst den Ursprung deiner Essstörung erkennen, um vollständig heilen zu können.

Meine inneren Überzeugungen, negativen Glaubenssätze und Verletzungen aus der Kindheit kamen durch die Essstörung zum Ausdruck. Das Essen an sich war aber nie das Problem. Solange ich das nicht erkannte, konnte sich die Essstörung immer und immer wieder einen Weg in mein Leben bahnen. Mal unverkennbar, als Anorexie und Bulimie, mal verschleiert in Form von Orthorexie oder dem Sportzwang.

Nicht, weil sie mir bewusst schaden, sondern weil sie mir etwas mitteilen wollte. Weil sie mich auf einen Missstand aufmerksam machen und mich dazu zwingen wollte hinzuschauen.

 

Es kann unglaublich angsteinflößend und verletzend sein sich mit dem Ursprung der Essstörung auseinanderzusetzen, weil diese Auseinandersetzung radikale Ehrlichkeit erfordert und du nicht länger die Augen verschließen kannst. Und doch ist es gleichzeitig so befreiend und erlösend die Hintergründe zu erkennen und zu verstehen.

Ich verspreche dir: hinzuschauen lohnt sich. Das bringt deinen Heilungsweg auf ein vollkommen neues Level.

 

Nun wünsche ich dir frohe Weihnachten. Bleib stark. Du bist es wert.

 

Alles Liebe,

deine Saskia


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