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Abends erfüllte es mich mit Stolz, dass ich tagsüber nur eine halbe Paprika und ein Stück Gurke gegessen habe. Ich habe es geliebt meinen Magen knurren zu hören und hungrig ins Bett zu gehen. Ich spürte förmlich, wie mein Körper Fett abbaute. Gleichzeitig entdeckte ich unzählige „Pro Ana“-Accounts auf Instagram, die den kranken Teil in mir nur noch mehr befeuerten.
An dieser Stelle: Bitte überlege auch du, wem du auf den sozialen Netzwerken folgst. "Pro Ana"-Accounts sind gefährlich, weil sie das Krankheitsbild verherrlichen. Insbesondere am Anfang deines Heilungswegs, können solche Profile dich extrem verunsichern.)
Durch die „Pro Ana“-Accounts bekam auch ich einen völlig neuen Zugang zu der Krankheit. Sie brachten mich auf Ideen, auf die ich von allein wahrscheinlich nicht gekommen wäre – eiskalt duschen, Gemüsebrühe trinken, aber auch mein Bewegungspensum enorm hochzufahren, um noch mehr Kalorien zu verbrennen. Die Bewegung war die perfekte Ablenkung von meinem Hunger, der immer und immer größer wurde. Ich habe die Schule geschwänzt oder meinen Eltern erzählt, dass ich mich mit Freunden treffe, um laufen zu gehen. Ab und zu habe ich mir eine Cola light an der Tankstelle oder im Supermarkt gekauft - um mich zu belohnen; aber auch, um den Hunger zu unterdrücken.
Beim Laufen hatte ich meine Lernsachen dabei, lernte Chemie, Physik, Bio auswendig und schaffte es tatsächlich meine Noten zu verbessern, obwohl ich kaum noch in der Schule war. Mein Plan schien aufzugehen, was mich wie beflügelt hat. Ich war auf dem richtigen Weg. Dachte ich.
(Das Bild entstand im Italienurlaub wenige Monate vor meinem Klinikaufenthalt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits deutlich Gewicht verloren.)
Schon kurze Zeit später konnte ich die Krankheit nicht mehr kaschieren. Ich nahm zügig ab, Komplimente kamen keine mehr. Stattdessen machte man sich Sorgen um mich – meine Freundinnen suchten das Gespräch mit mir, der Schulleiter rief meine Eltern an und die standen sowieso kurz vor der Verzweiflung.
Ich erinnere mich noch an einen Abend, an dem meine Mama mir einen 150g-Becher Joghurt hinstellte und mich anflehte ihn zu essen. Andernfalls müsse sie mich ins Krankenhaus bringen. Das war das Letzte was ich wollte. Also habe ich ihn gegessen und etwas später, als der Rest der Familie schon schlief, zwei Stunden Sit-Ups, Hampelmänner und Kniebeuge gemacht, um den Joghurt wieder abzutrainieren.
Zu dem Zeitpunkt war ich bereits von der Schule befreit und alle zwei Tage bei meiner Hausärztin, die mein Gewicht im Auge behalten und mich in eine Klinik einweisen sollte, sobald es einen sehr kritischen Punkt unterschritt. Ich konnte erkennen, wie sehr meine Familie unter meiner Essstörung litt. Es gab nahezu jeden Tag Streit. Nicht nur zwischen mir, sondern auch zwischen meinen Eltern. Weil ich meine Familie nicht länger zur Last fallen wollte, willigte ich (wie ich rückblickend erkennen kann aus den völlig falschen Motiven) ein, mich in einer Klinik behandeln zu lassen.
Ich wurde sehr schnell stationär auf der psychosomatischen Abteilung im Krankenhaus aufgenommen. An viele Dinge kann ich mich gar nicht mehr genau erinnern – mir fehlen Namen, Daten, Tage, weil ich zu dieser Zeit einfach 100% fremdgesteuert war. Die Krankheit hatte mich so fest im Griff. Ich hatte keinen eigenen Willen und konnte mir ein Leben ohne Essstörung gar nicht mehr vorstellen. Die körperlichen Schäden, die mein Körper schon jetzt davontrug, waren so gravierend, dass ich mehrere Wochen im Rollstuhl sitzen musste. So wenig Bewegung wie möglich. Die Hölle für mich.
Die Behandlung sah vor, dass ich mit 5 Mahlzeiten am Tag mindestens 500 g in der Woche zunehmen sollte. Ab und zu konnte ich mich überwinden mitzuessen, oft verweigerte ich das Essen aber oder ließ es in meinen Jackentaschen verschwinden. Es reichte trotzdem aus, um meinen Herzschlag weitestgehend zu normalisieren, sodass ich den Rollstuhl nach einigen Wochen nicht mehr brauchte.
Sofern ich die 500 g-Marke beim Wiegen knackte, durfte ich von da an über die Wochenenden nach Hause.
Ich befand mich im absoluten Zwiespalt: Einerseits wünschte ich mir nichts sehnlicher, als im eigenen Bett zu schlafen, meine Hunde und meine Freunde zu sehen. Andererseits war die Angst vor der Zunahme viel zu groß. Mein Wille gesund zu werden hingegen nach wie vor viel zu klein.
Ich fing an vor jedem Wiegen Wasser zu trinken um mich schwerer zu machen, als ich eigentlich war. Anfangs eine halbe Flasche. Dann eine. Später eineinhalb. Ich wurde vom Klinikpersonal gelobt und auch meine Eltern waren erleichtert, als sie hörten, dass ich scheinbar zugenommen hatte. Währenddessen habe ich mich elendig gefühlt, immerhin kannte ich als Einzige die Wahrheit. Und doch sah ich keinen anderen Ausweg. An den Tagen, an denen es morgens auf die Waage ging, stellte ich mir meinen Wecker zwischen 4 und 5 Uhr, huschte unbemerkt aus meinem Zimmer, deckte mich mit Wasserflaschen ein (die im Nebenraum gelagert und dadurch unglaublich leicht zugänglich waren), kroch zurück ins Bett und trank eine nach der anderen. Der Plan ging auf und ich durfte tatsächlich über das Wochenende nach Hause. Ich redete mir ein, dass ich nur noch ein paar Wochen vor dem Wiegen trinken würde, bis ich mein Gewicht so weit nach oben geschummelt hatte, dass ich entlassen werden konnte. Und wenn ich dann erst einmal wieder zu Hause war, würde ich wirklich gesund werden. Zu meinen Bedingungen. Sprich Lebensmittel essen, mit denen ich mich einigermaßen anfreunden konnte und Sport machen, um ja nicht nur Fett, sondern auch Muskeln zuzunehmen,
Am Ende trank ich bis zu acht Liter in einem Zeitraum von 2 Stunden. Es war der blanke Horror. Mein Bauch tat weh, ich hatte das Gefühl innerlich zu ertrinken, mir war so schlecht, dass es Tage gab, an denen ich Wasser erbrochen habe. Es war mir egal.
An einem Tag, an dem es eigentlich nicht auf die Waage ging, weckte mich eine Betreuerin, und forderte mich auf mitzukommen. Ich sollte gewogen werden. Völlig unvorbereitet. Die Betreuerin war drei Wochen im Urlaub und völlig überrascht gewesen, als sie mitbekam, dass ich während ihrer Abwesenheit mehrere Kilos zugenommen haben soll. Sie war skeptisch, da ich mich äußerlich nicht verändert hatte und befürchtete daher schon, dass ich alle getäuscht haben könnte. In dem Moment, als ich auf der Waage stand, sah ich mein Kartenhaus zusammenbrechen. In dem Moment kam alles raus.
Sofort wurden meine Eltern angerufen und über mein Fehlverhalten informiert. Sie hatten die Wahl: entweder wurde mir eine Sonde gelegt oder sie sollten mich endgültig abholen. Nach allem, was meine Eltern in den letzten Monaten durchgestanden haben, wie verzweifelt und hilflos sie waren, hätte ich es verstanden, wenn sie sich für die Sonde entschieden hätten. Doch nicht einmal, nachdem ich sie belogen habe, haben sie den Glauben an mich verloren. Sie waren felsenfest davon überzeugt, dass ich es auch ohne künstliche Ernährung schaffen würde und so haben sie mich nach Hause geholt. Für diesen mutigen Schritt bin ich ihnen unendlich dankbar.
Dass meine Eltern mich in diesem Zustand nicht lange zuhause behalten konnten, war klar. Ich hatte mich vor einigen Monaten für die Klinik entschieden um mich ihnen nicht länger zuzumuten und da sich an meinem Zustand nichts verbesserte (eher im Gegenteil), galt das nach wie vor. Meine Mama machte daher eine neue Klinik ausfindig. Eine Klinik in Passau, etwa 4 Stunden von meiner Heimat entfernt. Die Klinik war, anders als die psychosomatische Abteilung im Krankenhaus, in der ich zuvor war, auf Essstörungen spezialisiert. Ich stellte mich vor und konnte tatsächlich nur wenige Tage später aufgenommen werden.
Ich wurde von meinen Eltern in die Klinik gebracht. Wir vereinbarten mit dem Klinikpersonal, dass ich noch einmal mit ihnen außerhalb der Klinik Abendessen durfte, da fraglich war, wann sie mich wieder besuchen würden. Dann wurde ich zur Anmeldung geschickt; schon da fühlte ich mich dermaßen unwohl. Links, rechts, gegenüber von mir saßen Frauen, die aussahen, als würden sie jeden Moment zusammenbrechen. Ihre Gesichter waren eingefallen, die Augen leer, keine Spur von Lebensfreude. Zu mir und meinem Körper hatte ich schon längst jeglichen Bezug verloren. Ich hatte nach wie vor das Gefühl zu dick zu sein. Diese Frauen zu sehen war jedoch, als hätte mir endlich mal jemand einen Spiegel vorgehalten und gezeigt, wie es wirklich um mich steht.
Nachdem ich aufgerufen wurde, begrüßte mich eine Therapeutin, die mir noch einmal die „Spielregeln“ der Klinik vorstellte. Es gab eine Anwesenheitspflicht bei den Mahlzeiten und kurze Zeit danach. Abgesehen davon konnten die Patientinnen ihren Tag frei gestalten. Einkaufen oder spazieren gehen. Auf dem Zimmer bleiben. Sogar Sport machen. Auch wenn die Essstörung in mir zu jubeln begann, weil das bedeutete, dass ich sie in gewisser Weise weiter ausleben konnte, gestand ich mir ein, dass mich das auf meinem Heilungsweg nicht weiter voranbringen würde. Wieso hatte mich darüber beim Vorstellungsgespräch niemand ins Bilde gesetzt?
Nach dem Gespräch wurde ich auf mein Zimmer geschickt. Ich mich noch nie so allein und hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Ich hatte Angst, begann am ganzen Körper zu zittern, lag auf dem Bett, weinte und konnte nicht mehr aufhören. Zum ersten Mal empfand ich so etwas wie Mitgefühl mit mir selbst. Mit dem kleinen Mädchen, das Theaterstücke im Kindergarten aufführte, in der ersten Klasse Geschichten vorlas und von Herzen lachen konnte. Zum ersten Mal erkannte ich, wie mein Leben verlaufen würde, wenn ich nicht bald anfing etwas zu verändern. Ich würde nie meinen Schulabschluss machen, nie studieren, nie einen Job haben, nie heiraten, Kinder bekommen oder alt werden. Zum ersten Mal entwickelte sich, wahrhaftig und aus tiefstem Herzen, der Wunsch gesund zu werden.
Als meine Eltern mich zum Abendessen abholten, sprudelte es nur so aus mir heraus. Monatelang hatte ich nur das Nötigste gesprochen. Jetzt setzte ich plötzlich weder Punkt noch Komma. An diesem Abend überzeugte ich meine Eltern davon, dass sie mich nach Hause holen und ich es allein schaffen würde. An diesem Abend habe ich auch das erste Mal seit Beginn der Essstörung ohne schlechtes Gewissen und sogar auswärts gegessen. Das fühlte sich so gut an, dass ich mir an diesem Abend geschworen habe, das wieder zur Normalität werden zu lassen. Ich wollte gesund werden. Frei sein. Leben.
Dieser Abend war einer der entscheidenden Punkte auf meinem Heilungsweg.
Ich möchte, dass du aus Teil 2 meiner Geschichte Folgendes mitnimmst:
- Der Wunsch gesund zu werden muss von dir kommen!
Die Menschen in deinem Umfeld können dich dazu anhalten, dich in Therapie zu begeben; das Klinikpersonal kann dich dazu auffordern endlich etwas zu essen und Psychotherapeuten können hundert Gespräche mit dir führen – all das bringt nichts, solange du nicht den tiefen Wunsch hast wirklich und wahrhaftig gesund zu werden.
Die Essstörung ist eine psychische Krankheit, die so stark ist, dass dein Wunsch gesund zu werden all deine Ängste überschatten und dich Grenzen überschreiten lassen muss. Andernfalls wirst du früher oder später schwach.
Ich bin mir rückblickend so fremd. Ich war blind, konnte nicht sehen, wie stur ich an der Essstörung festgehalten habe und dass ich mich selbst sabotiert habe. Ich habe den Betreuern in der Klinik, meiner Familie, meinen Freunden, vor allem aber auch mir selbst etwas vorgemacht, solange ich vorgab gesund werden zu wollen, tief im Inneren aber lieber gestorben wäre, als auch nur ein Gramm zuzunehmen.
Ich weiß, wie unglaublich angsteinflößend der Wunsch nach Heilung sein kann. Er ist das Todesurteil deiner Essstörung, die um jeden Preis am Leben bleiben will. Doch du hast es bis hierhin geschafft! Sei mutig und entscheide dich für das Leben. Ich verspreche dir, dass es einfacher wird.
In Teil 3 meiner Geschichte werde ich genau darauf nochmal eingehen. Bis dahin - bleib stark ♥
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