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#69 Wie du es schaffst, dem Heilungsweg zu vertrauen

Als ich vor 2 Wochen darüber nachgedacht habe, worum es in meinem nächsten Blogartikel gehen soll, habe ich eine kleine Umfrage auf Instagram gefragt und euch um Themenvorschläge gebeten. Die Antworten gingen von der Angst vor der Gewichtszunahme über Fear-Foods bis hin zu normalen Portionsgrößen und das sind zweifelsohne alles wichtige Themen für deine Recovery. Trotzdem habe ich mich dazu entschieden, heute keines dieser Dinge aufzugreifen. Zumindest nicht direkt...

 

Ich habe in den letzten Wochen gemerkt, dass ich mich verändert habe. Und ganz ehrlich? Das ist wichtig und auch gut so! Manchmal vergesse ich, dass ich nicht nur Coach oder irgendeine x-beliebige Person bin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Aufklärungsarbeit zu leisten und für Essstörungen zu sensibilisieren. Nein – ich spreche aus der Perspektive einer Betroffenen, die vor etwas mehr als zwei Jahren selbst den Wunsch hatte, ihre Heilungsreise festzuhalten und zu teilen. Ich merke oft, dass ich das Gefühl habe, zur Angst vor der Gewichtszunahme oder zu Fear-Foods alles gesagt zu haben – und dass ich mein eigenes Wachstum leugne, wenn ich mich trotzdem weiterhin ausgiebig mit diesen Themen befasse. Also wenn du heute auf der Suche nach Tipps und Ratschlägen zu einem ganz speziellen Thema bist, schau dich gerne auf meinem Blog um – ich bin mir sicher, dass du etwas Passendes findest

 

Ich glaube fest daran, dass wir uns immer wieder neu erfinden, spannende Dinge lernen und uns dementsprechend weiterentwickeln. Vor zwei Jahren hätte ich es nie für möglich gehalten, irgendwann an einen Punkt zu kommen, an dem ich mich mit gewissen Aspekten der Essstörung nicht mehr identifizieren kann. Ich meine: Ich war die Essstörung. Vollumfänglich und zu 100%. Inzwischen aber ist es so und irgendwie sind wir da schon bei genau dem Thema, dem ich den heutigen Beitrag widmen möchte. 

Was ist Vertrauen?

Dass es bei (d)einer Essstörung nicht darum geht, abzunehmen, möglichst dünn zu sein oder möglichst viel Sport zu machen, habe ich schon sehr oft betont. Auf den ersten Blick vielleicht, ja. Im Kern ist die Ursache aber eine andere. Genauso ist es bei der Angst vor der Gewichtszunahme, Fear-Foods und normalen Portionsgrößen: Das Problem ist nicht wirklich die Angst vor der Gewichtszunahme, der Umgang mit Fear-Foods oder die Frage nach normalen Portionsgrößen. Das Problem ist das fehlende Vertrauen.

 

Vertrauen spielt in vielen Bereichen unseres Lebens eine wichtige Rolle. Innerhalb der Familie, in Freundschaften oder Beziehungen. Aber auch in Bezug auf uns selbst und das Leben.

 

Sich selbst und dem Leben vertrauen zu können, bedeutet für mich: Keine Angst zu haben. Zu wissen, dass man mit allem, was kommt, umgehen kann. Dass man immer eine Lösung findet. Und selbst wenn man nicht alles auf Anhieb versteht, die Dinge rückblickend Sinn ergeben. Für mich ist Vertrauen das Wissen, dass das Leben für einen ist. Dass es einem Aufgaben von genau der Größe schickt, die wir bewältigen können. An denen wir wachsen. Vertrauen ist, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Selbst wenn es gar nicht der Ort ist, den wir ursprünglich in Erwägung gezogen haben. Weil Vertrauen auch heißt, von Plänen abzuweichen. Kontrolle abzugeben. Sich dem Fluss des Lebens hinzugeben.


Urvertrauen - und warum wir es verlieren:

Ich kann verstehen, dass du am liebsten sofort erfahren möchtest, wie du in dieses Vertrauen kommen kannst. An dieser Stelle ist es elementar zu verstehen, dass du alles, was du dafür brauchst, bereits in dir trägst. Vertrauen ist nämlich dein natürlicher Zustand. Du bist nicht auf die Welt gekommen und hattest Angst, dich zu zeigen oder verletzt zu werden. Ganz im Gegenteil. Als Babys stellen wir nicht infrage, ob wir richtig sind. Wir sind in tiefem Urvertrauen und wissen, dass wir auf dieser Welt willkommen sind. Je älter wir werden, desto mehr Erfahrungen machen wir jedoch, die uns verunsichern und dieses Urvertrauen erschüttern. Das können sehr einschneidende Erlebnisse wie die Scheidung der Eltern oder der Tod einer nahestehenden Person, aber auch prägende Situationen aus der Kindergarten- und Schulzeit sein. Plötzlich hinterfragen wir, wer wir sind. Wir fühlen uns nicht mehr geliebt oder „gut genug“ und glauben stattdessen, dass andere schöner, klüger oder beliebter sind als wir.

 

Mit jedem Moment, in dem unser Urvertrauen erschüttert wird, verschließen wir unser Herz ein kleines bisschen mehr. Wir fangen an, uns zu schützen – beispielsweise gehen wir Konflikten aus dem Weg, verstellen uns oder lassen keine aufrichtige Bindung mehr zu. Man könnte auch sagen, dass wir Angst statt Liebe wählen. Dadurch stellen sich immer mehr unangenehme Gefühle wie Einsamkeit, Ohnmacht oder Hilflosigkeit ein. In unserer westlichen Welt wird uns der Umgang mit belastenden Gefühlen leider nur bedingt beigebracht. Es ist also nicht verwunderlich, dass wir uns damit schnell überfordert fühlen und nach Möglichkeiten suchen, diese Gefühle zu bändigen. Sie zu kontrollieren. Und genau hier kommt die Essstörung ins Spiel.

Die Rolle deiner Essstörung

Dieses wunderschöne Zitat ist von Ulrich Schaffer. Nach allem, was ich dir bis hierhin mitgegeben habe, passt es meiner Meinung nach perfekt. Wir sind so oft so wütend auf die Essstörung, das Leben und uns selbst. Fragen uns immer wieder, wieso ausgerechnet wir dieses Problem haben. Wieso wir nicht einfach normal sein; normal essen können. Wir glauben, die Essstörung bekämpfen zu müssen. Dadurch übersehen wir aber all das, was vor der Essstörung war, und verpassen es zu erkennen, dass die Essstörung an sich nie das Problem, sondern vielmehr eine Bewältigungs-/Vermeidungsstrategie war. Auch wenn es sich ziemlich abwegig anhören mag, hat dein essgestörtes Verhalten einen Sinn. Es ist ein Lösungsversuch, um mit unangenehmen Gefühlen oder Lebenssituationen umzugehen. Du siehst also, dass die Essstörung dir nicht wirklich schaden will. Stattdessen möchte sie dich auf einen Missstand in deinem Leben aufmerksam machen. Dich dazu zwingen, wieder hinzuschauen und statt Angst wieder Liebe zu wählen.

 

Vielleicht gibt es in deinem Umfeld eine dir nahestehende Person, die dich schon einmal sehr verletzt und dadurch einen Teil deines Vertrauens verspielt hat. Wie bist du damit umgegangen? Hast du dich erst einmal zurückgezogen? Hattest du Schwierigkeiten damit, dich diesem Menschen gegenüber wieder zu öffnen? Wie lange hat es gedauert, bis du wieder vertrauen konntest? 

 

Ähnlich wie bei Verletzungen, die wir durch einen anderen Menschen erfahren, kann es eine Weile dauern, dem Leben wieder voll und ganz vertrauen zu können. Und ähnlich wie gewisse Erfahrungen, durch die wir uns jenem Menschen wieder annähern, stellt uns auch das Leben vor kleine und große Tests, in denen es uns fragt: Möchtest du Angst oder Liebe wählen?

Was würde die Liebe tun?

Für mich war der Weg aus der Essstörung der strengste, gleichzeitig aber auch der größte Lehrer, Liebe zu wählen und wieder ins Vertrauen zu kommen. Weil es bei der Heilung von Essstörungen an unglaublich vielen Stellen darum geht, zu vertrauen: Innerhalb von Therapie oder Coachingsitzungen. Bei Hunger- und Sättigungssignalen. Dem Extremen Hunger. Während einer Sportpause. Bei der Gewichtszunahme und und und... Ich stand vor unzähligen Entscheidungen, in denen ich zwischen meinem essgestörten und gesunden Anteil (und damit zwischen Angst und Liebe) wie hin- und hergerissen war. Die Entscheidung für meinen gesunden Anteil war nicht nur eine Entscheidung für eine Therapie, die Sportpause oder Gewichtszunahme, sondern auch eine Entscheidung, mich dem Leben zu öffnen und zurück ins Vertrauen zu kommen. 

 

Für mich war das eines der größten Learnings auf meinem Weg. Denn auch ich habe jahrelang auf den Tag gewartet, an dem ich in vollstem Vertrauen bin und endlich für Heilung losgehen kann. But it’s the other way around. Das Vertrauen kann und wird erst im Prozess entstehen. Das sind die Meilensteine, an denen du feststellst: Es geht mir besser. Es ist tatsächlich leichter geworden. 

Du merkst also: So schwer und kräftezehrend sie auch sein mag – deine Heilungsreise ist für dich! Darum darfst du aufhören gegen sie und alles, was sie mit sich bringt, zu kämpfen. Die Gewichtszunahme, eine Sportpause oder den Extremhunger abzulehnen zeigt, dass du nicht im Vertrauen bist und verzweifelt versuchst, auf die gleiche Art und Weise gesund zu werden, die dich krank gemacht hat. Das bedeutet natürlich nicht, dass du keine Angst haben darfst. Aber du kannst Angst haben – und trotzdem den nächsten Schritt gehen.

 

Die Angst war auch auf meinem Heilungsweg eine treue Begleiterin. Aus einem „Ich fürchte mich.“ kann aber niemals ein „Ich bin bereit.“ werden, weil deine Angst dich zu beraten und zu beschützen versucht. Hinter deiner Angst steckt also eine positive Absicht. Eine Art Schutz- und Überlebensmechanismus, der ein angemessenes Verhalten einleiten soll. Weil dieser Mechanismus ein Überbleibsel der Steinzeit ist, berücksichtigt deine Angst nicht, ob dein Überleben tatsächlich bedroht ist. Oder ob die Annahmen, auf der deine Angst beruht, wirklich stimmen. Was passiert ist, dass die Angst wie ein Kaugummi an deinem Schuh klebt und dich daran hindert, voranzukommen.

Frage dich also, was die Geschichte ist, mit der du deine Angst begründest. Und wovor sie dich schützen möchte. Vor welcher (erneuten) Erfahrung? Vor welchem (erneuten) Schmerz? Und wisse, dass deine Zukunft nicht die automatische Verlängerung deiner Vergangenheit ist. Vielleicht ist deine Angst zu einer Zeit entstanden, in der du weitaus jünger und unwissend gewesen bist. Diese Selbstreflexion hilft dir, deiner Angst zu begegnen. Du kannst aufhören, auf den Moment zu warten, in dem du vollkommen frei von deinen Ängsten bist und anfangen, deine Ängste liebevoll zu integrieren. Sie auf deine nächsten Schritte mitzunehmen. Dadurch wirst du neue Erfahrungen machen und die Energie der Angst in Vertrauen und Liebe verwandeln... 

Wer bin ich ohne meine Essstörung?

Auf fehlendes Vertrauen und Angst gibt es eine Antwort, die bei Essstörungen eine besondere Rolle einnimmt: Kontrolle. Das Bedürfnis nach Kontrolle zählt zu unseren Grundbedürfnissen und ist demnach tief in unserem menschlichen Dasein verankert. Zum Problem wird unser Kontrollbedürfnis also erst, wenn es überhandnimmt. Oder wenn wir Dinge kontrollieren möchten, die sich unserer Kontrolle eigentlich entziehen. So weiß unser Körper eigentlich am besten, welches Gewicht richtig für ihn ist. Oder wie viel Nahrung er braucht, um glücklich zu sein. Trotzdem orientieren wir uns an Tabellen, einem längst überholten Body-Mass-Index und Apps zum Kalorienzählen...

 

Wir brauchen all diese Dinge, um uns sicher zu fühlen. Dabei sind Kontrolle und Sicherheit eigentlich nicht miteinander gleich zu setzen. Kontrolle birgt immer auch die Gefahr, dass wir uns verschließen. Verschließen vor dem, was eigentlich für uns bestimmt ist. Weil wir die Arme eben nicht ausbreiten und bereit sind, zu empfangen, sondern sie verschränken oder sogar zu Fäusten ballen und gegen die Dinge kämpfen, die wir nicht geplant haben, die außerhalb unserer Komfortzone liegen oder unangenehme Gefühle mit sich bringen könnten. Ich habe eingangs erwähnt, dass Vertrauen bedeutet, in dem Wissen zu sein, dass das Leben dir Aufgaben von genau der Größe schickt, die du bewältigen kannst. Insofern kann Kontrolle abzugeben, auch eine Einladung sein, etwas Neues auszuprobieren, etwas anderes zu tun und unerwartete Seiten an dir zu erleben. 

Also breite deine Arme aus. Lass zu dir kommen, was zu dir kommen möchte. Und vor allen Dingen: Fürchte dich nicht davor, kurzzeitig mit leeren Händen dazustehen und nicht zu wissen, wo du hingehörst. Mir ging es genauso. Es gibt eine Situation während meines ersten Klinikaufenthaltes, an die ich mich noch sehr gut erinnere. Wir saßen gerade in einer Vorstellungsrunde, als einer meiner jüngeren Mitpatienten von seinem Interesse am Ozean und der Unterwasserwelt erzählte. Seine Augen haben geleuchtet, er war Feuer und Flamme, in seinem Redefluss kaum zu stoppen, bis meine Therapeutin das Wort an mich übergab und mich fragte, was denn mein „Steckenpferd“ sei. Damals war ich mit dieser Frage maßlos überfordert. Mein „Steckenpferd“ war die Essstörung. Mehr gab es nicht in meinem Leben.

 

Die Frage „Wer bin ich ohne meine Essstörung?“ war auch bei mir ein zentraler Bestandteil meines Heilungswegs. Ich glaube, dass mir irgendwann klar wurde, dass ich mit der Essstörung nie herausfinden kann, wer ich ohne sie bin.  Ganz ehrlich: Ich frage mich bis heute, wer ich bin. Ich bin Tochter, Schwester, Freundin und Partnerin. Ich habe unglaublich viele Interessen, die liebevollsten Freundinnen, nicht nur einen, sondern zwei Berufe, die mich sehr glücklich machen. Darüber hinaus eine Menge Ideen, Träume und Visionen, die ich noch raus in die Welt bringen möchte. Ich habe Vertrauen, ein offenes Herz und Liebe zu verschenken. Ich bin, was immer ich sein möchte. Ich bin viele. Was ich aber definitiv weiß, ist, dass ich mehr als meine Essstörung bin. 

Alles Liebe,

deine Saskia

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Kommentare: 3
  • #1

    Leandra (Sonntag, 02 Oktober 2022 12:52)

    Wundervolle sowohl berührende wie auch nachdenkliche Worte. Danke ♥️

  • #2

    Anna (Sonntag, 02 Oktober 2022 17:46)

    Ganz wundervollen Worte zu zum Thema Vertrauen. Der Blog kam gebau zum richtigen Zeitpunkt.
    Danke für deine Mühe liebe Saskia ❤️

  • #3

    A. (Freitag, 19 April 2024 09:37)

    Wow, so wundervoll schön und inspirierend. Danke für das teilen deiner Erfahrungen♥️