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#34 Lebensmitteleinkauf mit Essstörung

Während es bei der Behandlung vieler Suchterkrankungen um Abstinenz geht, geht es bei der Heilung einer Essstörung um Konfrontation. „Essen“ lässt sich allein aus der Tatsache heraus, dass es für jeden Menschen überlebensnotwendig ist, nicht einfach meiden. Hinzu kommt, dass wir im Laufe des Heilungswegs ein gesundes Verhältnis zum Essen wiedererlangen und die Angst vor dem Essen verlieren sollen. Und das ist nur möglich, wenn wir uns dem Essen und unserer Angst davor immer und immer wieder stellen. Ich werde nicht müde es zu sagen: Der Weg aus der Angst führt durch die Angst!

 

Wer essen möchte (oder im Fall von Menschen mit einer Essstörung: muss!), muss sich früher oder später natürlich auch um die Nahrungsbeschaffung kümmern und einkaufen. Während sich der eine vorher eine Einkaufsliste schreibt, packt der andere einfach die Dinge ein, auf die er Lust hat. Was eigentlich so simpel klingt, kann für Menschen mit einer Essstörung zur regelrechten Tortur werden. 

Einkaufen mit Bulimie

Ich habe mich beim Einkaufen lange Zeit maßlos überfordert gefühlt und gebe zu: Zum Teil tue ich das auch heute noch! Links und rechts warten hunderte Lebensmittel darauf, von mir in den Einkaufswagen gelegt zu werden. Ich fühle mich bedrängt.

 

Zurückversetzt in eine Zeit, in der ich mit dem bloßen Ziel, einen Ess-Brech-Anfall zu haben, in den Supermarkt gegangen bin. In der ich Lebensmittel nach einem einzigen Kriterium ausgewählt habe: Wie gut lässt sich das erbrechen?

 

Aber auch zurückversetzt in eine Zeit, in der ich mich für jeden dieser Ess-Brech-Anfälle verurteilt habe. In der ich mir Tag für Tag gesagt habe „Ab morgen hört das auf!“. In der ich mit dem Ziel, einen „ausgewogen einzukaufen“, in den Supermarkt gegangen bin und mich irgendwo zwischen „Ich muss mich zügeln, weil ich keinen Essanfall riskieren möchte.“ und dem Heißhunger auf Verbotenes in völliger Verzweiflung wiedergefunden habe.

Einkaufen mit Magersucht

Idee: recovereise
Idee: recovereise

Die Magersucht hat das Einkaufen zum Erlebnis gemacht.

 

Vor jedem Einkauf habe ich wie besessen die Wochenprospekte studiert und mir Gedanken darüber gemacht, was ich gerne einkaufen würde, es aber ohnehin nicht tue.

 

Als ich noch bei meinen Eltern gewohnt habe, wollte ich um jeden Preis dabei sein, wenn die Besorgungen gemacht wurden. Dann stand ich eine gefühlte Ewigkeit vor den Regalen, nahm Lebensmittel heraus, überprüfte die Nährwertangaben, legte sie wieder zurück.

Ab und zu habe ich bemerkt, wie meine Mama mich beobachtet hat. In ihrem Blick Verzweiflung und die unausgesprochene Bitte, dass ich doch „einfach essen“ soll. Oft habe ich Mut vorgetäuscht und für mich verbotene Lebensmittel in den Einkaufswagen gelegt – nur, um sie dann kurz vor der Kasse unauffällig wieder daraus verschwinden zu lassen.

 

Nachdem ich 2016 ausgezogen bin, konnte ich die Besessenheit um den Lebensmitteleinkauf uneingeschränkt ausleben. Weil ich die Nährwertangaben einzelner Lebensmittel nach kurzer Zeit in- und auswendig kannte, wusste ich, dass unterschiedliche Marken unterschiedliche Kalorienangaben für das gleiche Lebensmittel führten. Es brauchte vier verschiedene Supermärkte, dieses eine Brot, diesen einen Joghurt und dementsprechend eine Menge Zeit, bis ich meinen Einkauf erledigt hatte.

Einkaufen auf dem Heilungsweg

Weil ich mich durch das Einkaufen zumindest gefühlsmäßig von Zeit zu Zeit in die  Essstörung zurückversetzt fühle, hat es mich lange Zeit komplett ausgelaugt und erschöpft. Nachdem ich euch letzte Woche auf Instagram meinen Lebensmitteleinkauf gezeigt habe, wurde mir durch eure Nachrichten bewusst, dass es nicht nur mir so ging.

Mich haben vor allem folgende Dinge unterstützt, inzwischen entspannter einkaufen gehen zu können (Ganz wichtig: Auch mir gelingt das nicht immer – und das ist okay!):

 

1.) Nicht hungrig, gestresst oder unter Zeitdruck einkaufen gehen: Sorge sowohl vor als auch nach deinem Einkauf gut für dich! Fühlen wir uns beim Einkaufen hungrig oder gestresst, führt das nicht selten zu Fehlentscheidungen, die wir hinterher bereuen. Plane den Einkauf in deinen Tagesablauf ein und erledige ihn nicht irgendwo zwischen Tür und Angel. 


2.) Nicht allein einkaufen gehen: Du musst das nicht allein schaffen! Du darfst dir Hilfe holen! Sprich mit einer Person, der du vertraust, über die Gedanken und Gefühle, die das Einkaufen in dir auslöst. Ganz bestimmt ist sie bereit, dich auf deinem Weg zu unterstützen.


3.) Kleinere Verpackungsgrößen: 

Bei Bulimie kann es helfen, Lebensmittel, die einen Essanfall triggern könnten, in kleineren Verpackungsgrößen zu kaufen. Insbesondere dann, wenn du noch nicht allzu stabil bist, solltest du nicht zu viel auf Vorrat kaufen, sondern besser öfter, kleinere Einkäufe erledigen.

 

Bei Magersucht unterstützen dich kleinere Verpackungsgrößen dabei, dich Lebensmitteln zu stellen, die dir Angst machen. Es ist einfacher, einen einzigen Schokoriegel zu kaufen, anstatt dich direkt mit der ganzen Packung zu konfrontieren. 

 

Ich weiß, dass es wirtschaftlich gesehen nicht unbedingt sinnvoll ist. Große Mengen sind in der Regel günstiger. Doch darum geht es an dieser Stelle nicht. Es geht um deinen Heilungsweg!

 

4.) Ausgewogen einkaufen: Dein Einkauf darf ausgewogen, vielfältig und bunt sein. Natürlich darfst du nach wie vor auch Lebensmittel einkaufen, die sich für dich sicher anfühlen. Auf dem Weg aus der Essstörung geht es nicht darum, sich permanent mit angstbehafteten Lebensmitteln zu konfrontieren. Nichtsdestotrotz gehört das auch dazu! Soll heißen, dass du versuchen solltest, die Balance zwischen einer gewissen Herausforderung und deiner Sicherheit zu finden.


5.) Passe deinen Einkauf dem Stand deiner Recovery an: Du darfst verstehen, dass es ein Prozess ist. Gerade zu Beginn deines Heilungswegs kann das Einkaufen extrem schwer und belastend sein. Natürlich musst du es dir dann nicht noch schwerer machen, indem du versuchst, zig Fear-Foods in den Einkaufswagen zu legen. Je fortgeschrittener die Heilung deiner Essstörung ist, je weniger Raum die Essstörung einnimmt und je stabiler du bist, desto leichter wird dir das Einkaufen fallen und desto mehr kannst du dich beim Einkaufen in Sachen Fear-Foods herausfordern.


6.) Hab Geduld und vergib dir, wenn es nicht auf Anhieb klappt: Wie gesagt – es ist ein Prozess und daher auch völlig in Ordnung, wenn ein Einkauf in die Hose geht. Anstatt dich dafür abzuwerten oder zu verurteilen, versuche lieber zu reflektieren: Was ist dir schwer gefallen und warum? Wie kannst du es beim nächsten Mal besser machen?

Der finanzielle Aspekt

Essstörungen sind teuer!

 

Eine Bulimie geht mit Essanfällen einher, für die nicht selten ganz gezielt und in großen Mengen eingekauft wird. Je nach Schwere der Bulimie nicht nur einmal, sondern mehrmals die Woche. Manchmal sogar mehrmals am Tag.

 

Wer glaubt, eine Magersucht sei „günstiger“, irrt sich. Wie schon beschrieben mussten es auch bei mir ganz konkrete Lebensmittel sein, bei denen der Preis zweitrangig war. Was zählte, waren die die Nährwertangaben. Das Produkt mit den wenigsten Kalorien, wurde gekauft.

Ausschließlich kalorienarme, aber auch High-Protein oder Fitnessprodukte zu kaufen, geht auf Dauer ins Geld, weil diese in der Regel teurer sind als das Original. Ich erinnere mich sogar, Lebensmittel aus Amerika bestellt und dafür eine Menge Versandkosten auf mich genommen zu haben, nur weil ich Proteinriegel probieren wollte, die zu der Zeit jeder große Influencer auf Instagram präsentiert hat.

 

Es gibt aber auch Betroffene, bei denen das Gegenteil der Fall ist. Die glauben, sich nichts „gönnen“ zu dürfen und deswegen ausschließlich die günstigsten Produkte kaufen. Häufig stecken Glaubenssätze wie „Ich habe das nicht verdient.“ oder aber „Mir darf es nicht gut gehen.“ dahinter. Es ist wichtig, an inneren Überzeugungen zu arbeiten und sich dem eigenen Wert bewusst zu werden (wie dir das gelingt, erfährst du in diesem Beitrag). Denn natürlich hast du es verdient, zu essen! Genauso wie du es verdient hast, dass es dir gut geht. Darüber hinaus darfst du grundsätzlich verstehen, dass Essen ein Grundbedürfnis ist, das keine Erlaubnis oder Leistung erfordert. 

Kalorienarme Produkte kaufen - ja oder nein?

Ich habe lange Zeit überwiegend Light-, Low-Fat- oder High-Protein-Produkte gekauft. Das Label gab mir Sicherheit: Es war zwar ein Schritt in Richtung Heilung (Immerhin habe ich überhaupt etwas gegessen...), gleichzeitig aber auch nach wie vor ein Festhalten an der Essstörung. Was ich mir eingeredet habe, war, dass ich später, wenn ich dann erstmal „gesund“ bin und keine essgestörten Gedanken mehr habe, immer noch auf die Vollfett-Variante umsteigen kann. Das Problem? Hat man sich erst einmal an Light-, Low-Fat- oder High-Protein-Produkte gewöhnt, fällt einem die Umstellung auf normale Lebensmittel noch schwerer.

 

Du denkst vielleicht, dass das nicht schlimm sei und du dich ja tatsächlich lebenslang von diesen Produkten ernähren kannst. Allerdings wird im Restaurant, bei Mama, Oma, etc. auch nicht mit Light-Produkten gekocht. Das wiederum führt dazu, dass auswärts essen Panik in dir auslöst, weshalb du es irgendwann versuchen wirst, zu vermeiden.

 

Ein weiterer Gedanke, der mir geholfen hat:

Was suggeriere ich später mal meinen Kindern, wenn in unserem Kühlschrank ausschließlich Light-, Low-Fat- oder High-Protein-Produkte stehen? Können sie dadurch das gesunde Verhältnis zum Essen entwickeln, das ich mir für sie wünschen würde? Wohl kaum.

 

Die Sache ist die: Der Heilungsweg ist schwer. So oder so. Ob mit Light-, Low-Fat- oder High-Protein-Produkten oder ohne. Mein Rat an dich: Beginne gleich mit der Vollfett-Variante und erspare dir einen zusätzlichen „Arbeitsschritt“ im Sinne von „Das mach ich später.“.

Hast du dich in meinen Worten wiedererkannt?

Was nimmst du aus diesem Beitrag mit?

Und welche Tipps wirst du beim nächsten Lebensmitteleinkauf umsetzen?

Schau gerne bei mir auf Instagram vorbei oder schick mir eine E-Mail über das Kontaktformular auf meinem Blog, um deine wertvollsten Erkenntnisse mit mir zu teilen ♥ Wie immer freue ich mich, von dir zu hören.

 

Alles Liebe,

deine Saskia

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