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#67 Fünf Stolpersteine auf dem Weg zur intuitiven Ernährung

Der Weg aus der Essstörung geht für die meisten von uns mit dem Wunsch einher, wieder intuitiv essen zu können. Wer sich schon einmal mit dem Ansatz der intuitiven Ernährung auseinandergesetzt hat, weiß, dass intuitiv essen „Essen ohne Verbote“ und „Essen nach Bauchgefühl“ bedeutet. Was in der Theorie so leicht und verlockend klingt, ist es in der Praxis, insbesondere nach einer Essstörung, leider ganz und gar nicht.

 

Immerhin geht die intuitive Ernährung davon aus, dass dir dein Körper genau sagt, wann du was in welcher Menge brauchst. Die Voraussetzung ist jedoch, dass wir seine Signale wahrnehmen, richtig deuten und sie auch umsetzen können.  

Was intuitive Ernährung mit Vertrauen zu tun hat

Der jahrelange Kampf gegen meinen Körper und seine Bedürfnisse hat in meinem Fall dazu geführt, dass Vertrauen verloren gegangen ist. Und zwar auf beiden Seiten. Mein Körper hat verlernt, mir zu vertrauen, weshalb er lange Zeit mit einem verschobenen Hunger- und Sättigungsgefühl, Überlebensmodus und Extremhunger reagiert hat. Ich hingegen habe verlernt, meinem Körper zu vertrauen, weshalb ich mich an immer denselben Tagesablauf und dieselbe Essstruktur gehalten habe, überzeugt davon war, dass jede Abweichung mich zunehmen lässt und sich mein Körper niemals bei einem Gewicht einpendeln wird, mit dem ich mich wohlfühle.

 

Ich denke, dass es vielen Betroffenen von Essstörungen, vielleicht auch dir, so geht. Mir ist es wichtig, über die Herausforderungen der intuitiven Ernährung zu sprechen, zu betonen, dass es nicht so einfach ist, wie es sich anhört und du nichts falsch machst, nur weil intuitiv essen aktuell noch nicht funktioniert. So gut wie alles auf dem Weg der Heilung ist ein schrittweiser Prozess, der viel Zeit und Geduld braucht.

Weil „anfangen“ mit das Schwierigste ist, habe ich dir in diesem Beitrag meine fünf größten Stolpersteine auf dem Weg zur intuitiven Ernährung zusammengefasst. Ich hoffe, dass sie dich zum Nachdenken anregen, wo du ansetzen und was du loslassen darfst.

1.) Kalorienzählen

Ich habe bereits einen ausführlichen Blogbeitrag zum Kalorienzählen und darüber, wie du dich davon lösen kannst, verfasst. In diesem Beitrag möchte ich die wichtigsten Infos noch einmal zusammenfassen und dir erklären, wieso Kalorienzählen einen Stolperstein auf dem Weg zur intuitiven Ernährung darstellt.

 

In dem Moment, in dem wir anfangen, unsere Kalorien über eine App oder Fitnessuhr zu tracken, fangen wir auch an, unseren Körper wie eine Maschine zu behandeln. Wir legen eine bestimmte Anzahl an Kalorien fest, versuchen, nicht darüber hinauszuschießen, weil das einem Versagen gleich käme und planen jeden Tag bis ins kleinste Detail. Ich habe teilweise schon sonntags dokumentiert, was ich am darauffolgenden Mittwoch oder Donnerstag esse – ohne den jeweiligen Tag abzuwarten und erst einmal in mich zu gehen. Mich zu fragen, wie es mir geht. Was ich brauche. Ob ich viel Hunger habe oder wenig.


Wir stellen Zahlen, Routinen und Zwänge über Bedürfnisse und wann immer wir das tun, geben wir unserem Körper ein Gefühl von „Du bist nicht wichtig. Ich habe hier das Sagen!“.

 

Dabei ist es ein Fakt, dass unser Kalorienbedarf täglichen Schwankungen unterliegt. Mal etwas höher ist, weil wir uns unbewusst mehr bewegen oder unsere Periode haben, mal etwas niedriger, weil das Wetter schlecht ist und wir den ganzen Tag in der Wohnung verbringen. Unter normalen Umständen reagiert unser Körper automatisch auf diese Schwankungen – sendet uns Hunger, wenn wir zu wenig und signalisiert Sättigung, wenn wir ausreichend gegessen haben.

 

Es ist wichtig, dass wir uns vom Kalorienzählen lösen, um unseren Körper zu diesem natürlichen Rhythmus zurückkehren zu lassen. Er kann und wird vorübergehend einen erhöhten Bedarf haben, wenn du ihn über Monate, vielleicht sogar über Jahre unterernährt hast. Das wiederum kann und wird mit einer Gewichtszunahme einhergehen, wobei an der Stelle erwähnt sei, dass ein gesundes, stabiles Gewicht ohnehin eine Grundvoraussetzung ist, um überhaupt intuitiv essen zu können. Wenn du erkennst und honorierst, dass sich die Bedürfnisse deines Körpers von Tag zu Tag ändern können, stärkst du sein Vertrauen in dich, sodass sich dein Körper unterschiedlichen Gegebenheiten anzupassen lernt.

2.) Essenszeiten

Ich habe vor einiger Zeit einen Fragesticker in meiner Instagram-Story geteilt und euch gefragt, ob ihr feste Essenzeiten habt und wenn ja, ob ihr problemlos davon abweichen könnt. Die Antworten waren eindeutig: 84% der TeilnehmerInnen haben angegeben, sich an konkrete Uhrzeiten zu halten. Für 79% ist es zudem eine Herausforderung, von diesen Zeiten abzuweichen.

 

Zu Beginn meiner eigenen Recovery habe auch ich es als hilfreich erlebt, mir eine Mahlzeitenstruktur mit entsprechendem Timing zurechtzulegen. Ich habe es als eine Art Selbstschutz und -fürsorge gesehen, weil ich so sicherstellen konnte, dass ich a) ausreichend esse und b) genug Zeit zwischen den einzelnen Mahlzeiten liegt, um zu verdauen und nicht mit dem damals noch sehr unangenehmen Völlegefühl konfrontiert zu sein.

 

Im Laufe meiner Recovery haben sich meine starren Essenszeiten von Selbstschutz und -fürsorge zu einem Zwang entwickelt, der meinen Food-Focus verstärkt und mir damit das Leben schwer gemacht hat. Ich war permanent am Rechnen, wann meine nächste Mahlzeit ansteht, und habe meinen körperlichen oder mentalen Hunger mit der Überzeugung, „noch nichts essen zu dürfen“ übergangen.

 

Es ist wichtig zu verstehen, dass unser Körper eine innere Uhr und ein natürliches Gleichgewicht hat, welche sich unserem Tagesrhythmus anpassen. Um da hinzukommen, darfst du von starren Essenszeiten abweichen und Signalen deines Körpers, die außerhalb deiner gewohnten Mahlzeiten liegen, nachgeben. Häufig glauben wir, mit Veränderungen wie diesen unseren Halt zu verlieren. An dieser Stelle darfst du dich daran erinnern, dass Veränderung immer erst einmal unangenehm ist. So lange, bis unser Unterbewusstsein versteht, dass nichts passiert. Wir den Halt nicht mehr in Essenszeiten, dafür in uns selbst finden.

3.) Ernährungsregeln (Low Carb, Intermittent Fasting, etc.)

Ein weiterer Störfaktor auf dem Weg zur intuitiven Ernährung sind Ernährungsregeln. Ich habe auf meinem eigenen Weg aus der Essstörung verschiedenste Ernährungsformen ausprobiert und so gut wie alles mitgenommen. Daher kann ich gut nachvollziehen, dass du an dieser Stelle so etwas denkst wie: „Aber innerhalb meiner Ernährungsform erlaube ich mir doch alles!“. Trotzdem lassen spezielle Ernährungsformen wenig Spielraum. Keinen Platz für Abweichungen und Bedürfnisse. 

 

Wenn du mit Freunden, deiner Familie oder deinem Partner/deiner Partnerin auswärts essen bist, du Lust auf Pizza hast, dir diese aber nicht erlaubst, weil deine Ernährungsform nur einen Salat zulässt oder du andernfalls dein Fastenfenster nicht einhalten kannst, ist das alles andere als intuitiv.

 

Noch heimtückischer sind kleine Regeln, die wir uns im Laufe der Zeit selbst auferlegt haben. Viele dieser Regeln haben wir schon so stark verinnerlicht, dass wir sie nicht mehr hinterfragen und gar nicht merken, wie sie unseren Weg aus der Essstörung sabotieren.

 

Eine Sache, die mich mit am längsten beschäftigt hat, war die „Das erlaube ich mir dann am Wochenende“-Mentalität. Bedeutet, dass ich meine Bedürfnisse unter der Woche zurückgestellt und sie mir für das Wochenende aufgehoben habe. Das hat leider dazu geführt, dass ich meinen Körper von Montag bis Freitag komplett verunsichert habe, meine Bedürfnisse am Wochenende daraufhin komplett verfälscht waren, wodurch ich in einen Essanfall gerutscht bin. Danach habe ich mich natürlich wie eine Versagerin gefühlt.

 

Ganz egal, welche Regeln du hast – mit dem Schlussstrich darunter gewinnst du nicht nur Freiheit, du lässt auch das vertraute Gefühl des Versagens los.

4.) Verbotene Lebensmittel

Dieser Punkt schließt an den eben genannten an. Um eine intuitive Ernährung nach dem Prinzip der intuitiven Ernährung praktizieren zu können, darfst du zunächst eine Basis schaffen, die frei von Verboten ist. Denn: Was würde es bringen, wenn du auf der einen Seite Appetit auf ein Toast mit Schokoladencreme verspürst, diesem Impuls aber nicht nachgehen kannst, weil du dir auf der anderen Seite keine einfachen Kohlenhydrate und Zucker erlaubst oder furchtbare Angst davor hast?

Die intuitive Ernährung geht davon aus, dass es einen sogenannten Verzichthunger gibt. Das bedeutet, dass unser Organismus Lebensmittel(-Gruppen) aufwertet, wenn wir uns diese nur eingeschränkt oder gar nicht erlauben. Ganz nach dem Motto: Alles, was irgendwie verboten ist, ist interessant! Der Verzichthunger schürt unsere Ängste, weil wir zu tickenden Zeitbomben werden, die irgendwann nicht mehr widerstehen können und Essanfälle provozieren.

 

Was passiert, wenn wir an unserem Verzichthunger arbeiten und Fear-Foods auflösen?

1.) Wir fangen an unsere Fear-Foods zu integrieren und stellen fest, dass sie mit der bedingungslosen Erlaubnis ihre Anziehungskraft verlieren.

 

2.) Oder wir fangen an, unsere Fear-Foods zu integrieren und stellen fest, dass sie ihre Anziehungskraft mit der bedingungslosen Erlaubnis nicht verlieren. Also greifen wir eine Zeit lang vermehrt auf bislang verbotene Lebensmittel zurück, bis unser Körper darauf vertraut, dass kein Mangel mehr herrscht und er diese Lebensmittel immer wieder haben kann. Das wiederum bringt uns zurück zum 1. Punkt.

 

Ich habe auf meinem Heilungsweg unterschiedlichste Phasen durchlaufen: Ich hatte eine Nudel-, eine Brot-, eine Schokoladen-, Eis- und Käsephase. Ich konnte gar nicht genug von Lebensmitteln bekommen, die ich mir so lange verboten habe. Damals habe ich mich oft gefragt, wann und ob das jemals wieder aufhören wird.

 

Dabei ist es unglaublich anstrengend, sich permanent darauf zu fokussieren etwas „weghaben“ zu wollen. Insbesondere, weil „weghaben“ nicht das Ziel sein sollte. Das Ziel ist vielmehr, die mit den Lebensmitteln verknüpfte Bewertung aufzuheben und an einen Punkt zu kommen, an dem du dir problemlos alle Lebensmittel erlauben kannst. Die, die in deiner Welt „gesund“ sind. Aber auch die, die in deiner Welt als „ungesund“ eingestuft werden.

5.) Fitnessuhr

Ich selbst habe phasenweise eine Smartwatch getragen und hatte irgendwie eine ambivalente Beziehung dazu: Auf der einen Seite fand ich es interessant, zu sehen, wie mein Körper arbeitet und wie viele Kalorien er verbrennt. Auf der anderen Seite hat es mich stark unter Druck gesetzt, wodurch ich langfristig gemerkt habe, dass vermutlich nicht ich es bin, die sich für diese Fakten interessiert, sondern meine Essstörung.

 

Denn was passiert, wenn du weniger Schritte pro Tag gehst und weniger Kalorien verbrennst? Wie beeinflusst es deine Stimmung? Fühlst du dich unter Druck gesetzt? Versuchst du, dein Ziel auf Biegen und Brechen zu erreichen?

 

Meine Smartwatch hat dazu geführt, dass ich vermehrt Entscheidungen getroffen habe, die im Einklang mit meiner Essstörung standen. Ich bin spazieren gegangen, obwohl es in Strömen geregnet hat, im Flur auf und abgelaufen, bevor ich mich schlafen legen konnte und wenn ich keine Kraft mehr hatte, habe ich meinen Hunger ignoriert und einfach weniger gegessen – Hauptsache die Kalorienbilanz am Ende des Tages stimmt.

 

Keine Uhr der Welt kann dir sagen, was du wirklich brauchst. Sie ignoriert seelische Bedürfnisse, weil sie dich nicht daran erinnert, eine Pause für deine Me-Time und Selbstfürsorge einzulegen. Obwohl sie deinen Kalorienverbrauch, deine Herzrate oder die Anzahl an zurückgelegten Schritten anzeigt, ignoriert sie aber auch körperliche Bedürfnisse. Deinen mentalen Hunger kann sie nämlich nicht messen – und wie du weißt, spielt er auf dem Weg aus der Essstörung, hin zur intuitiven Ernährung eine wichtige Rolle. Er zeigt dir, was dein Körper braucht, um den Überlebensmodus zu beenden.

 

Es ist wichtig, mehr und mehr ins Spüren zu kommen. Achtsam mit dir und deinen Bedürfnissen umzugehen und dich immer wieder zu fragen: Was brauche ich gerade? Intuitive Ernährung fängt nicht beim Frühstück an und hört beim Abendessen auf. Intuitive Ernährung schließt intuitive Bewegung ein. Sie ist eine Lebensweise und eine Chance, flexibel, frei, spontan und glücklich zu werden.

 

Alles Liebe,

deine Saskia

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