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#33 Überforderung, die Essstörung vermissen und durchhalten

Wow, was für eine anstrengende letzte Woche! Wenn du mir auf Instagram folgst, weißt du bereits, dass ich derzeit neben meinem Studium ein freiwilliges Praktikum absolviere. In Kombination mit meinem Blog und allem, was sonst noch so los ist, sind mir die Dinge zuletzt ein wenig über den Kopf gewachsen.

Bitte versteh mich nicht falsch: Was ich hier mache – das Schreiben, präsent sein auf Instagram, zu Gast in Podcasts oder Vorträgen an Schulen, das Beantworten von Fragen per Mail oder Direktnachricht, ... ich liebe das! Der Blog ist mein absolutes Herzensprojekt – das ist auch der Grund, warum ich möglichst viel Zeit und Liebe investiere und versuche, an allen Stellen für dich da zu sein. Es geht mir um dich und darum, dir auf dem Weg aus deiner Essstörung Mut zu machen.

 

Was ich bei all dem aber manchmal vergesse: Mich und meinen eigenen Weg. 

Heilung verläuft nicht linear

Nur weil ich mich entschieden habe, meinen Weg aus der Essstörung zu teilen, bedeutet das nicht, dass mein Weg geradlinig verläuft oder es mir immer gut geht. Nur weil ich sage, dass Heilung mit der Zeit einfacher wird, bedeutet das nicht, dass sie ab einem bestimmten Punkt total einfach ist. Nur weil ich dir auf meinem Blog Tipps und Ratschläge an die Hand gebe, bedeutet das nicht, dass ich es durchgehend schaffe, diese auch selbst zu beherzigen.

 

Und ich predige oft, dass man sich für die Heilung der Essstörung Zeit nehmen soll. Dass sie ein Full-Time-Job und es wichtig ist, die körpereigenen Bedürfnisse zu achten und ihnen nachzugeben. Ausruhen oder eine Runde spazieren gehen. Ausschlafen oder den Wecker stellen. Arbeiten oder einfach mal eine Pause machen. Me-Time oder Freunde treffen.

 

Me-Time ist wichtig. Pausen sind wichtig. Regeneration ist wichtig. Einfach mal durchatmen, die Gedanken und Gefühle ordnen, eine kurze Bestandsaufnahme machen: Wo stehe ich gerade? Wo will ich hin? Bin ich noch auf der Spur oder davon abgekommen? Ich habe zuletzt geglaubt, keine Zeit für eine Pause zu haben. Ich habe mir gesagt, dass „noch ein bisschen was geht“, weshalb es eigentlich nur eine Frage der Zeit war, bis sich all das, was sich dadurch innerlich anstaute, einen Weg gesucht hat, um zum Ausdruck zu kommen: Panikattacke, hallo!

Manchmal vermisse ich meine Essstörung

Ich gebe zu: Es wurde mir zu viel.

 

Und wenn mir alles zu viel wird und ich das Gefühl habe, den Herausforderungen in meinem Leben nicht gewachsen zu sein, vermisse ich meine Essstörung.

 

Obwohl das für Außenstehende wahrscheinlich total absurd klingt (denn wie kann man etwas vermissen, das einem im Großen und Ganzen eigentlich nur eine Menge Schaden zufügt?!), ist es gar nicht so verwunderlich, wenn man erst einmal versteht, wie Essstörungen „funktionieren“:

 

Essstörungen sind keine Eintagsfliegen. Sie sind treue Begleiter, meist über mehrere Jahre hinweg. Sie üben großen Einfluss auf das gesamte Leben aus und scheinen eine ideale Lösung für die kleinen und großen Probleme unseres Alltags zu sein. Weil sie letztendlich nichts anderes sind als Bewältigungsstrategien. Weil sie bestimmte Funktionen erfüllen und versuchen, uns (wovor auch immer) zu schützen.

 

In meinem Fall war die Essstörung ein Mittel, um der Realität zu entfliehen, um mein Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit zu befriedigen und um mit meinen Ängsten umzugehen. Und nach einem solchen Mittel sehne ich mich in herausfordernden Zeiten nun mal. Ich revidiere also: Es ist nicht die Essstörung, die ich in Zeiten wie diesen vermisse. Es ist das, was die Essstörung für mich war. Es sind die Gefühle, die sie in mir ausgelöst hat.

Zweifel auf dem Heilungsweg

Wenn ich meine Essstörung vermisse, vergesse ich (zumindest für einen kurzen Augenblick), wie viel Gutes passiert ist, seit ich mich für die Heilung meiner Essstörung entschieden habe. Ich vergesse die gewonnene Freiheit. Ich vergesse den Geschmack der Lebensmittel, die ich mir so lange verboten habe und jetzt wieder genießen kann. Ich vergesse die schönen Abende mit meinem Freund, einem Glas Wein und guten Gesprächen. Ich vergesse die unzähligen Momente, in denen ich von Herzen gelacht habe und Spaß hatte. Ich vergesse, wie viel Raum mein Kopf inzwischen für gesunde und kreative Gedanken hergibt. Ich vergesse all die Wunder, die wahr wurden, seit es buntezebras gibt.

 

Wenn ich an diesem Punkt bin, ist alles, woran ich denken kann, die immer enger werdende Kleidung. Mein kritischer Blick in den Spiegel. Das Unwohlsein. Der Drang, mich zu übergeben. Der Wunsch nach einem dünnen Körper, der mich beschützt, weil er ein solches Maß an Mitleid erregt, dass sich keiner traut, mir zu nahe zu kommen und etwas von mir zu verlangen, dem ich nicht gerecht werden kann.

Das einzige Mittel das hilft? Durchhalten!

Doch in all den Jahren mit der Essstörung, Rückfällen, Aufs und Abs habe ich eine Sache ganz eindringlich gelernt: Die Essstörung wird mich niemals glücklich machen!

 

Und genau das ist der Grund, aus dem ich mich inzwischen dafür entscheide, durchzuhalten und nicht zu ihr zurückzukehren. Es ist okay, dass ich sie und die Gefühle, welche sie in mir ausgelöst hat, von Zeit zu Zeit vermisse. Dennoch weiß ich, dass ich ohne sie besser dran bin.

 

Vermissen – ja. Zurückkehren – nein.

Ich weiß, dass durchhalten einfacher gesagt, als getan ist. 

 

Den Wunsch nach Heilung zu entwickeln – das ist leicht. Schließlich merkt man recht schnell, dass ein Leben mit Essstörung weder lebens- noch erstrebenswert ist, weshalb man sich natürlich nach einem glücklicheren, befreiten und erfüllten Leben sehnt.

 

Auf dem Heilungsweg durchzuhalten – das ist die eigentliche Herausforderung. Man fasst den Entschluss, morgen anzufangen, mehr zu essen, weniger Sport zu machen, sich nicht mehr zu übergeben und und und. Wie oft aber setzt man diesen Entschluss dann gar nicht erst um oder man setzt ihn zwar um, knickt dann – mal noch am selben Tag, mal nach ein paar Wochen oder sogar Monaten - wieder ein?

Kaum passiert etwas, womit man nicht umgehen kann, kaum fruchtet die Heilung und man nimmt die ersten Kilos zu, kaum wird es schwer, flüchtet man erneut in die Essstörung.

Wieso fühlt sich der Weg aus der Essstörung so falsch an?

Die Heilung der Essstörung ist kein Zuckerschlecken! Essen fühlt sich falsch an. Zunehmen fühlt sich falsch an. Nicht zu erbrechen, fühlt sich falsch an. Heilung fühlt sich falsch an. So falsch, dass du nahezu vergisst, dich aus den richtigen Motiven für die Heilung deiner Essstörung entschieden zu haben. So falsch, dass du dir nicht mehr annähernd vorstellen kannst, dass das wirklich richtig sein soll.

 

Und doch sage ich dir: Nur weil es sich falsch anfühlt, bedeutet das nicht, dass es auch falsch ist.

 

Du darfst verstehen, dass es auf dem Weg aus der Essstörung immer erst einmal schlimmer wird, bevor es besser wird. Die Essstörung wehrt sich. Und sie wehrt sich vehement, wenn sie bemerkt, dass du ihr keine Beachtung mehr schenkst oder sie ignorierst. 

Du kannst dir die Essstörung wie ein Kleinkind in seiner Trotzphase vorstellen: Es schreit, weil es Aufmerksamkeit möchte. Und natürlich können sich Eltern dem Kind zuwenden, ihm einen Schnuller in den Mund stecken, ihm liebevoll gut zureden und es dadurch kurzzeitig besänftigen, bis es wieder loslegt. Sie können das Kind aber auch mal schreien lassen, ihm dadurch zeigen, dass sein Verhalten nicht zieht und es ihm so langfristig abgewöhnen. 

 

Halte die „Trotzphase“ deiner Essstörung aus. Versuche nicht hinzuhören, wenn sie schreit.

Versuche das Gegenteil von dem zu tun, was sie von dir verlangt, um ihr zu zeigen, dass ihr Verhalten nicht zieht. Und vertraue darauf, dass sie sich ihr „Verhalten abgewöhnen“, im Sinne von „immer leiser werden“ wird, wenn sie bemerkt, dass sie bei dir damit nicht länger auf fruchtbaren Boden trifft.

Auch mir geht es inzwischen schon wieder besser. Ich habe mich in tiefem Vertrauen darauf, dass nach dem Tal der Tränen die Sonne auf mich wartet, dafür entschieden, nicht das einfachste, sondern das richtige zu tun. Und richtig ist, durchzuhalten! Mich für Heilung zu entscheiden. Jeden Tag. 

 

Alles Liebe,

deine Saskia

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