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#16 Minnie Maud - Was das ist und meine Erfahrungen damit

Wenn du dem ein oder anderen Recovery-Account auf Instagram folgst, hast du mit großer Wahrscheinlichkeit schon einmal etwas von Minnie Maud gehört. Da jedoch häufig die Erklärung fehlt, wissen die wenigsten so richtig, was Minnie Maud eigentlich ist. Mir ging es vor ein paar Jahren nicht anders – als ich mich im Zeitraum zwischen 2014 und 2015 mit Gleichgesinnten verbunden habe, habe ich zunächst überhaupt nicht verstanden was es mit

Pint-Partys oder Fear-Food-Challenges, die mit Minnie Maud in Verbindung gebracht wurden, auf sich hat.

 

Diesen Beitrag möchte ich deshalb nutzen, um dir die Minnie Maud-Methode vorzustellen und dir von meinen Erfahrungen damit zu berichten. 

Was ist Minnie Maud?

Minnie Maud ist eine Methode zur Heilung von Essstörungen, die von der Amerikanerin Gwyneth Olwyn entwickelt wurde und auf der Minnesota Starvation Study basiert. Das Vorwissen zur Minnesota Starvation Study ist notwendig, um Minnie Maud richtig verstehen und nachvollziehen zu können.


Die Minnesota Starvation Study wurde im Jahre 1944 von dem Ernährungswissenschaftler Ancel Keys durchgeführt. Keys wollte den körperlichen und geistigen Zustand nach einer verstärkten Mangelernährung erforschen.

 

Dafür hungerten sich 36 normalgewichtige und gesunde Männer über einen Zeitraum von einem halben Jahr auf ein niedriges, sehr gefährliches Körpergewicht herunter.

 

Die physischen Auswirkungen der Mangelernährung ließen nur wenige Wochen auf sich warten. Die Männer verloren ihre Libido, ihre Körpertemperatur sank, der Puls verlangsamte sich, viele Teilnehmer klagten über Schwindel, extreme Müdigkeit oder Haarausfall.

 

Gleichzeitig stellten die Männer auch psychische Folgen fest - obwohl deren Essverhalten vor der Studie völlig normal und ungestört war, legten sie plötzlich ein anorektisches und bulimisches Verhalten an den Tag. Sie entwickelten Angst vor dem Essen, konnten aber auch rund um die Uhr an nichts anderes mehr denken. Sie betrieben exzessiv Sport und fingen vereinzelt sogar an, sich nach den Mahlzeiten zu übergeben. Auch emotional stumpften sie total ab, isolierten sich, hatten mit Depressionen zu kämpfen.

"Es scheint, als hätten sich meine Knochen, meine Muskeln, mein Magen und mein Verstand in ihrer Sehnsucht nach ESSEN vereint"

- Lester Glick, Teilnehmer der Minnesota Starvation Study im Mai 1945.

Ende Juli wurde die Kalorienaufnahme dann endlich wieder aufgestockt und die Ernährung gänzlich normalisiert. Neben einer gesteigerten Kalorienaufnahme von etwa 4.000 Kalorien am Tag, lautete die klare Vorgabe „Kein Sport!“.

 

Zunächst hatten die Männer einen gesteigerten Appetit, sowie Heißhungerattacken. Darüber hinaus machten ihnen starke Wassereinlagerungen zu schaffen, die auch der Grund für eine rapide Gewichtszunahme waren. Im Zuge der Mangelernährung hatten ihre Körper außerdem in den Überlebensmodus geschaltet. Körpereigene Prozesse, wie die Verdauung oder auch die Stoffwechselrate, liefen nur stark verlangsamt ab. Der langsamere Stoffwechsel war ein weiterer Grund dafür, dass sie zu Beginn der Genesungsphase recht schnell zunahmen.

 

Je mehr die Teilnehmer zunahmen, desto eher normalisierten sich Wassereinlagerungen und die körpereigenen Prozesse. Sie nahmen zwar weiter zu, jedoch deutlich langsamer als noch zu Beginn. Die Zunahme stoppte bei dem Wohlfühlgewicht ihres Körpers. Heute bezeichnet man dieses Gewicht auch als den Set-Point.

Das Gewicht, mit dem sich der Körper wohl fühlt, mit dem alle körpereigenen Prozesse normal und reibungslos ablaufen, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Bei den meisten Männern lag der Set-Point bei dem Gewicht, das sie auch vor der Studie hatten. Sie gaben an, auch nach der Studie mehr essen zu können, als zuvor, ohne weiter zuzunehmen.

 

Mit der Zunahme verschwanden auch die anorektischen und bulimischen Züge. Die Männer interessierten sich wieder für alltägliche Dinge und hatten ihren Geist geheilt.

Sich von Unterernährung zu erholen, ist nicht so leicht, wie es scheint. Vitaminpillen und Proteine allein reichen nicht aus. Man braucht einfach viele Kalorien."

- Ancel Keys im Juni 1946  


Nach diesem kleinen Ausflug in die Studie nun also zurück zu Minnie Maud:

Gwyneth Olwyn leitete aus der Minnesota Starvation Study 3 Prinzipien ab:

1.) Tägliche Kalorienzufuhr:

Nimm als Frau bis zu einer Größe von 173 cm mind. 2.500 kcal am Tag zu dir.

Nimm als Frau unter 25 Jahre bis zu einer Größe von 173 cm mind. 3.000 kcal am Tag zu dir.

Addiere 200 kcal pro Tag, wenn du größer als 173 cm bist.

 

Nimm als Mann bis zu einer Größe von 183 cm mind. 3.000 kcal am Tag zu dir.

Nimm als Mann unter 25 Jahre bis zu einer Größe von 183 cm mind. 3.500 kcal am Tag zu dir.

Addiere 200 kcal pro Tag, wenn du größer als 183 cm bist.

 

2.) Reduziere dein Bewegungspensum auf ein Minimum!

 

3.) Wiege dich nicht!

Ziel von Minnie Maud ist, dass unterernährte Frauen und Männer ihren Set-Point, also das Gewicht, bei dem ihr Körper bei einer normalen, ungezwungenen und ausreichenden Nahrungsaufnahme stehen bleibt, erreichen.

 

Weiterhin geht es bei Minnie Maud darum, die Schäden, die dem Körper während der Restriktion zugeführt wurden (z.B. Muskelabbau, Verlust von Knochen- und Hirndichte, Verlust des weiblichen Zyklus, etc), zu reparieren.

Dafür – ich zitiere Ancel Keys – braucht man einfach viele Kalorien. Nur durch eine ausreichend hohe Kalorienzufuhr kann sichergestellt werden, dass all das, was während der Restriktion eingeschränkt wurde, wieder aufgeholt wird.

(Ich möchte an dieser Stelle der Vollständigkeit halber trotzdem anmerken, dass eine Essstörung auch irreparable Schäden hinterlassen kann.)

 

Ebenfalls gibt Gwyneth Olwyn an, dass Minnie Maud den Stoffwechsel ankurbelt. Hat man seinen Set-Point also erstmal erreicht, soll man ganz schön viel essen können, ohne dadurch noch weiter zuzunehmen. 

Eignet sich die Minnie Maud Methode für mich?

Laut den Richtlinien ist Minnie Maud geeignet für...

... jeden, der Symptome von Unterernährung aufweist (körperlich und psychisch).

Hast du also beispielsweise Normalgewicht, jedoch keinen Zyklus, kannst auch du Minnie Maud anwenden.

 

Ich würde noch hinzufügen, dass...

... Minnie Maud geeignet ist, wenn...

... du im Kopf bereit bist die Essstörung hinter dir zu lassen.

... du eine Zunahme akzeptieren kannst.

... es dir Sicherheit gibt, dich auf deinem Heilungsweg an konkrete Vorgaben zu halten.

Meine Erfahrungen mit Minnie Maud

Ich habe die Minnie Maud-Methode etwa 7 Monate angewandt und dadurch Normalgewicht erreicht. Mir hat damals niemand gesagt „Mach das!“. Ich habe mich aus freien Stücken dafür entschieden, weil ich nicht länger mit der Essstörung leben wollte und bei anderen gesehen habe, dass es funktioniert.

 

Minnie Maud hat mir geholfen, ein bestimmtes Kalorienziel zu erreichen und dadurch sicherzustellen, dass ich ausreichend mit Energie versorgt bin. Auch wenn es mir am Anfang sehr schwer fiel, mich an die Kalorienvorgaben zu halten, da ich einfach nicht mehr daran gewöhnt war regelmäßig und große Portionen zu essen. Mit der Zeit habe ich mich aber daran gewöhnt und kann dir heute sagen, dass es machbar ist.

 

Gleichzeitig habe ich mit Minnie Maud eine geregelte Zunahme in einem medizinisch sinnvollen Bereich sichergestellt (auch in der Klinik rechnet man ja mit 500 g – 1 kg Woche).

 

Man muss dazu sagen, dass Minnie Maud große Disziplin verlangt. Über Monate hinweg so viel zu essen und zu bemerken, dass und wie sich der Körper verändert ist für Menschen mit Essstörung kein Kinderspiel.

 

Außerdem habe ich meine Kalorienzufuhr nicht von einem auf den anderen Tag, sondern nach und nach erhöht, bis ich die 3.000 Kalorien erreicht habe. Das war für meinen Kopf und auch für meinen Körper, der nach dem Essen lange Zeit mich Bauchschmerzen zu kämpfen hatte, einfacher.

 

Um sicherzustellen, dass ich mein Ziel dann auch täglich erreiche und nicht spätabends noch viel zu viele Kalorien offen zu haben, habe ich für mich folgende Richtwerte festgelegt:

  • Frühstück: 650 kcal
  • Snack 1: 350 kcal
  • Mittagessen: 650 kcal
  • Snack 2: 350 kcal
  • Abendessen: 650 kcal
  • Snack 3: 350 kcal

Diese Vorgaben ausschließlich mit Obst, Gemüse und Protein zu erreichen, ist natürlich sehr schwer.

Minnie Maud eignet sich daher auch, um die Angst vor bestimmten Lebensmitteln zu verlieren.

3.000 kcal bieten Spielraum für verarbeitete und hochkalorische Lebensmittel...

 

... ABER es ist natürlich nicht Sinn der Sache, nur noch Junk-Food zu essen. Es geht schließlich darum, den Körper ganzheitlich zu heilen und dein Körper dankt dir natürlich, wenn du ihm nach der Mangelernährung vermehrt Vitamine und Mineralstoffe zur Verfügung stellst. Balance is the key!

 

... ABER man muss sich erst einmal trauen! Nur weil man sich für Minnie Maud entschieden hat, heißt das ja nicht, dass plötzlich alle Ängste verschwunden sind. Minnie Maud kann lediglich die Legitimation von außen sein, die dir Sicherheit gibt. Minnie Maud ist ein "Ja, ich darf!".

Ich habe mich damals mit der Zeit sehr auf die konkreten Vorgaben versteift. Habe ich es an einem Tag nicht geschafft, 3.000 Kalorien zu erreichen, fühlte ich mich wie ein Versager. Hatte ich mehr Hunger und habe ich über die 3.000 Kalorien hinaus gegessen, fühlte ich mich verfressen. Ich habe viel zu viel Zeit damit verbracht mein Essen im Voraus zu planen, damit am Ende des Tages alles perfekt passt. Ich entwickelte aus Minnie Maud heraus den Zwang, meine Kalorien ganz penibel zu tracken. Diesen konnte ich erst letztes Jahr ablegen.

 

Daher mein Rat an dich: Nimm dir etwas Zeit, um dir im Vorfeld ein paar Gerichte für die jeweilige Mahlzeit unter Beachtung der Kalorienvorgaben zu überlegen. Aus diesem „Fundus an Mahlzeiten“ kannst du dich dann immer bedienen. Wichtig ist aber, dass du nicht jeden Tag für das gleiche Gericht entscheidest, nur um Fear-Foods zu meiden.

Vielleicht gibt es eine Person in deinem Umfeld, der du besonders vertraust und die das Kalorienzählen für dich übernehmen kann. Falls nicht, kannst du dir einzelne Mahlzeiten offen lassen und dann beispielsweise mit deiner Familie ein Gericht, das nicht du zubereitet hast und von dem du dann eben auch nicht genau weißt, wie viele Kalorien es hat, zu Abend essen.

 

Die Vorgabe lautet darüber hinaus auch keinen Sport zu machen und dein Bewegungspensum auf ein Minimum zu reduzieren. Höre da in dich hinein und folge deinem (gesunden) Verstand. Auch mir haben Spaziergänge immer gut getan, weshalb ich trotz Minnie Maud nicht darauf verzichten wollte. Später habe ich nach Rücksprache mit meiner Ärztin auch angefangen wieder im Fitnessstudio zu trainieren.

Cardio war tabu, gleichzeitig habe ich weiterhin ausreichend gegessen und sowieso den intensiven Wunsch gehabt, gesund zu werden, sodass ich mich selbst gegen den Gedanken gewehrt habe, es wieder ausarten zu lassen.

 

Zu guter Letzt möchte ich den Punkt mit dem Wiegen ansprechen. Ich kann dir von Herzen empfehlen, die Waage wirklich aus deinem Leben zu verbannen. Fakt ist: Du wirst mit Minnie Maud zunehmen. Du brauchst keine Waage, um das zu kontrollieren. Ich habe mich anfangs noch verkehrt herum auf die Waage gestellt, damit meine Mama mein Gewicht kontrollieren konnte. Als sie gemerkt hat, wie ernst es mir mit der Heilung meiner Essstörung war, haben wir die Waage irgendwann komplett weggelassen. Zu sehen, wie dein Gewicht steigt, wird dir kein gutes Gefühl geben. Deswegen: Mach es dir nicht unnötig schwer und schmeiß die Waage raus.


Auch wenn ich die Minnie Maud-Methode an der ein oder anderen Stelle kritisiere, halte ich es durchaus für sinnvoll, sich an ihr zu orientieren, um die Essstörung zu heilen. Dich daran zu orientieren heißt für mich, dass du sie zu DEINER Methode machst. Finde heraus, was dir guttut und was nicht. Was für dich funktioniert und was nicht.

Und das Allerwichtigste: Verurteile dich nicht, wenn es mal einen Tag nicht klappt. Du bist ein Kämpfer und du gibst jeden Tag dein Bestes. Nimm die Vorgaben als Richtwert, aber versteif dich nicht zu sehr darauf. 

 

Alles Liebe, 

deine Saskia


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Kommentare: 3
  • #1

    Ava Shadbash (Donnerstag, 01 Juli 2021 09:42)

    Liebe Saskia! Ich bin wirklich beeindruckt von diesem Beitrag! Er hat mich nicht nur total gefesselt, sondern auch um einiges weiter gebracht! Deine Schreibweise ist wirklich fantastisch! Ich danke dir sehr! Ich freue mich darauf noch vieles weitere von dir lesen zu dürfen...
    Dicke Umarmung,
    Deine AVA<3

  • #2

    Angie (Montag, 16 Mai 2022 13:34)

    Hey �
    Ich mag deinen Blog echt gerne und folge dir auch auf Insta.
    Ich versuche seit längerem, endlich meine ES loszulassen. Ich habe Anorexie mit bulimischen Phasen... Und bin fast im sogenannten Normalgewicht...
    Eigentlich würde ich es gerne mit so etwas wie Minnie Maud oder hochkalorisch oder nenn es, wie du willst, versuchen.
    Ich hab allerdings ein doofes Problem...
    Es heißt immer "man muss sich die Erlaubnis geben". Aber: wie mache ich das?
    Jedes mal, wenn ich versuche, mehr zu essen, kommt mir das fast automatisch wieder hoch... Ich kann mir noch so oft sagen "ich darf das". Es klappt nicht...?

  • #3

    Anastasia (Dienstag, 23 Mai 2023 20:29)

    Ich esse sehr viel aber nehme nicht zu