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#71 Motivation für die Heilung deiner Essstörung im neuen Jahr

Hallo buntes Zebra,

so schön, dass du da bist und dir die Zeit schenkst, den ersten Blogartikel im neuen Jahr zu lesen.

 

2023 – wie geht es dir, wenn du daran denkst?

 

Bist du gespannt, was die nächsten 12 Monate für dich bereithalten? Hast du schon den ein oder anderen Plan, der auf dich wartet? Ein Ziel, das du erreichen möchtest? Ein Gefühl, das dich begleiten darf?

 

Oder bist du dem neuen Jahr gegenüber eher neutral eingestellt? Vielleicht sogar etwas geknickt, weil dich der Jahreswechsel nur daran erinnert, dass wieder ein Jahr verstrichen ist, in dem du es nicht geschafft hast, deine Essstörung zu heilen. Endlich einen gesunden Körper zu haben, dich von deinen Ängsten zu befreien und dein Leben zu leben. 

 

Glaub mir, ich kenne das so gut! Auch wenn ich wirklich kein Fan von Neujahresvorsätzen bin – und noch nie war – wohnt doch jedem Anfang ein gewisser Zauber inne. Und genau deshalb hat das neue Jahr für mich immer etwas Magisches. Es ist wie ein Anfang. Ein leeres Blatt Papier, auf dem noch nichts geschrieben steht und dementsprechend eine Einladung, alles, was war hinter dir zu lassen.

 

Natürlich ist das immer leichter gesagt als getan. Auch ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich mir über zehn Jahre hinweg vorgenommen habe, ohne meine Essstörung in das neue Jahr zu starten – dann aber oft noch in der Silvesternacht eingeknickt und zurück in die Restriktion, das Erbrechen oder beides geflüchtet bin. Letztendlich ist das der Grund, aus dem mir dieser Blogbeitrag sehr am Herzen liegt. Weil ich die Entschlossenheit, gesund werden zu wollen, aber auch die Enttäuschung, doch wieder rückfällig geworden zu sein, bestens kenne. Weil ich nachvollziehen kann, dass du den Glauben an dich und ein Leben ohne die Essstörung aufgegeben hast – und dich trotzdem daran erinnern möchte, dass es keinen besseren Zeitpunkt geben könnte, für deine Heilung loszugehen.

Wieso Neujahresvorsätze scheitern

Wenn du mich fragst, ist das Problem an Neujahresvorsätzen, dass sie meist zu hochgesteckt sind. Das lässt sich auch auf den Wunsch, die eigene Essstörung zu heilen, übertragen. So sehr du dir wünschst, deine Essstörung von heute auf morgen hinter dir zu lassen, Heilung braucht Zeit – und das ist auch okay so.

 

Meine Coaching-Klientinnen frage ich zu Beginn unserer Zusammenarbeit immer, ob es eine Sache gibt, die ihnen leichter fällt als anderen. In den allermeisten Fällen antworten sie, dass sie besonders gut darin sind, Dinge anzugehen, umzusetzen und durchzuziehen. Tatsächlich sind eine hohe Leistungsorientierung und Perfektionismus Charakterzüge, die bei Betroffenen von Essstörungen überdurchschnittlich häufig beobachtet werden. Natürlich machen diese Charakterzüge keinen Halt vor der Recovery. Aus diesem Grund stellen wir an unseren Heilungsweg ähnlich hohe Erwartungen wie an andere Lebensbereiche.

 

Sicher gibt es Betroffene, für die diese Herangehensweise funktioniert. Die es schaffen, mit derselben Disziplin gesund zu werden, mit der sie krank geworden sind. Ich hingegen konnte dem Druck, den ich mir selbst gemacht habe, in der Vergangenheit nie standhalten. Ich wollte zu schnell zu viel. Keine negativen Gedanken mehr, Frieden mit meinem Körper schließen, regelmäßig essen, ohne Kalorien zu zählen, mich gleichzeitig aber auch nicht überessen und Erbrechen, kein zwanghaftes Spazieren oder Sport machen mehr, Freunde treffen, alles nachholen, was ich verpasst habe, ein normales Leben führen, frei sein.

 

Diese „Ganz-oder-gar-nicht“-Einstellung ließ mich ganz hoch fliegen, wenn all das zwei oder drei Tage geklappt hat. Sie ließ mich aber auch ganz tief fallen, wenn ich am vierten oder fünften Tag doch wieder rückfällig wurde.


Babysteps auf dem Heilungsweg

Vielleicht ist es im ersten Moment frustrierend zu lesen, dass sich deine Essstörung nicht in der Nacht vom 31. Dezember auf den 01. Januar auflösen kann. Auf der anderen Seite habe ich es als extrem befreiend erlebt, dass sich die Essstörung nicht vom 31. Dezember auf den 01. Januar auflösen muss. Du musst nicht vom einen auf den anderen Tag gesund werden. Du darfst dir Zeit geben.

 

Was bedeutet das konkret – sich Zeit zu geben? Gerade zu Beginn des Heilungswegs türmt sich oft die Erwartung auf, vollkommen frei von der Essstörung sein zu müssen, sich gleichzeitig wohl im eigenen Körper zu fühlen und intuitiv essen zu können. Wenn du mich fragst, ist Heilung aber mehr als das. Heilung passiert in diesem Moment. Bei jedem einzelnen Schritt, den du gehst. Ob nach vorn oder auch mal zurück. Denn es geht nicht darum, besonders schnell anzukommen. Es geht um das, was du erlebst. Es geht um die Erfahrungen, Begegnungen und Emotionen. Der Heilungsweg wird leichter, wenn wir unser Mindset ändern und den Fokus auf das „JETZT“ legen. Genau dann verliert die Essstörung an Raum.

 

Der Menschenrechtsaktivist Desmond Tutu hat das einmal so zusammengefasst: „There is only one way to eat an elephant: one bite at a time.” Sich Zeit zu geben, bedeutet also ein großes Ziel in kleinere, bewältigbarere Schritte aufzuteilen. Kleine Schritte sind nicht weniger wertvoll – ganz im Gegenteil. Sie bringen dich zurück in deine Selbstwirksamkeit, also die innere Überzeugung, aus eigener Kraft auch schwierige Situationen meistern zu können. Mit kleinen Schritten lassen sich Teilerfolge erreichen, die dir das Gefühl geben, wirklich etwas verändern; wirklich etwas bewegen zu können. Du wirst anfangen, immer mehr an dich und deinen Heilungsweg zu glauben. Dir und deinem Heilungsweg immer mehr zu vertrauen.


Die Angst, wirklich loszugehen

Ein Aspekt, auf den ich gerne noch eingehen würde, ist die Angst, wirklich loszugehen oder auch der Glaube, noch nicht vollständig bereit zu sein. Auch wenn ich sowohl die Angst als auch den Glauben bestens nachvollziehen kann, möchte ich zwei Erkenntnisse mit dir teilen, die elementar für mich waren:

 

1.) Heilung passiert nie ohne Angst.

 

Natürlich ist Angst eine Emotion, die ich von meinem eigenen Heilungsweg nur zu gut kenne. Ich habe sehr lange auf den Punkt gewartet, an dem ich vollkommen befreit von meiner Angst sein werde – und hätte ich nicht irgendwann verstanden, dass dieser Punkt nie kommen wird, würde ich vermutlich noch heute warten.

Was du verstehen darfst, ist, dass hinter deiner Angst eine positive Absicht steckt: Deine Angst versucht dich zu schützen, indem sie in Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten einleitet. Vereinfacht gesagt ist dieser Mechanismus ein Überbleibsel aus der Steinzeit. Deshalb kann dein Körper in Momenten der Angst nicht differenzieren, ob dein Überleben tatsächlich bedroht ist (z.B., weil um die Ecke ein Säbelzahntiger auf dich wartet) oder nicht. Für mich war es wahnsinnig wichtig, zu hinterfragen, ob die Annahmen, auf denen meine Angst beruht, tatsächlich stimmen, aber auch zu erkennen, dass ich meine Angst liebevoll integrieren und mit auf meine nächsten Schritte nehmen darf.

 

Wir können – nein, wir dürfen – Angst haben und trotzdem handeln. Auf diese Weise können wir auch gegenteilige Erfahrungen, also Erfahrungen, die unsere Angst nicht bestätigen, machen und die Energie der Angst mit der Zeit in Liebe und Vertrauen umwandeln.

2.) Heilung beginnt im Kopf.

 

Heilung beginnt nicht mit dem Gefühl, „krank“ oder „dünn genug“ zu sein. Heilung beginnt nicht mit dem Glauben bereit zu sein. Heilung beginnt im Kopf. Heilung ist eine Entscheidung. Keine Leichte und auch keine, die du einmal und dann nie wieder treffen musst. Nein, Heilung ist eine Entscheidung, die du jeden Tag treffen darfst – vielleicht sogar musst. Manchmal stündlich. Von Mahlzeit zu Mahlzeit. So lange, bis Heilung zur einzigen Option wird. Die Überzeugung, nicht bereit zu sein, ist vollkommen normal und lässt sich mit dem Nutzen sowie der Funktion deiner Essstörung begründen. Aber auch damit, dass wir Angst haben, etwas falsch zu machen.

 

Du kannst mir wirklich glauben, wenn ich dir sagen, dass es auf dem Heilungsweg kein „richtig“ oder „falsch“ gibt. Ich habe so oft und so unglaublich viele Fehler gemacht, dass ich sie gar nicht mehr alle benennen kann. Heute weiß ich, dass selbst meine vermeintlichen Fehler immer für mich waren. Sie haben mir die Chance gegeben, es noch einmal zu probieren. Es anders zu probieren und dadurch herauszufinden, was für mich funktioniert und was nicht.

 

Denn auch wenn es heute tolle Blogs, Podcasts und Wegbegleiter*innen gibt – jede Essstörung und jeder Heilungsweg ist anders. Der effektivste Weg zu heilen ist meiner Meinung nach der, der dich genau da abholt, wo du jetzt gerade stehst. Dafür darfst du in dich hineinspüren, dich fragen, was dein aktuelles Leben schwerer macht, als es sein sollte und was deinem Leben mehr Erfüllung schenken würde, wenn du es machen würdest. Diese Fragen können dein Kompass sein, dir die Richtung weisen und sagen, wie und womit du anfangen kannst.

 

Ich weiß, dass du alle Antworten bereits in dir trägst. Und die Antwort auf das „Wann?“ kennst du nun. Jetzt. In diesem Moment – ist der beste Zeitpunkt loszugehen.

 

Alles Liebe,

deine Saskia

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Kommentare: 6
  • #1

    Louisa (Sonntag, 01 Januar 2023 13:57)

    Nicht viel. Einfach nur Danke. Das kommt in mein "Recovery"-Buch für 2023 <3

    Deine Arbeit ist so wertvoll!

    LG

  • #2

    Petra (Sonntag, 01 Januar 2023 20:00)

    Dankeschön für diesen wertvollen Beitrag! Er gibt soviel Hoffnung und Mut! ❤

  • #3

    Lilli (Montag, 02 Januar 2023 22:43)

    So hilfreich, vielen Dank!
    Ich verstehe immer mehr, dass der Moment in dem ich mich „bereit“ fühle nie kommen wird. Ich muss jetzt aktiv handeln, nur so kann ich heilen.
    Ich wünsche dir alles Gute �

  • #4

    Emmi (Samstag, 14 Januar 2023 23:00)

    Danke Saskia, dein Text hat mir Mut gemacht!

  • #5

    Marion (Dienstag, 17 Januar 2023 20:32)

    Gibt es deine wertvollen Gedanken und Aussagen und Worte auch in Buchform....und:danke

  • #6

    Katharina (Freitag, 27 Januar 2023 13:49)

    Auch hier ein riesen großes Dankeschön.
    Mit jedem Blogeintrag hier, fühle ich mich mehr verstanden und wenig "kaputt". ♥