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#65 Teil 2: Essstörung und Beziehungen - Herausforderungen, Kommunikation und körperliche Intimität in der Partnerschaft

Eigentlich war dieser Blogartikel nicht als Zweiteiler geplant. Ich hatte schon lange vor, über das Thema „Essstörungen und Beziehungen“ zu sprechen. Als ich vor einigen Wochen angefangen habe, darüber nachzudenken, mir Notizen aufzuschreiben und einen Beitrag entstehen zu lassen, fiel mir auf, dass wir nicht über Beziehungen zu anderen Menschen sprechen können, ohne über Beziehung zu uns zu sprechen. Schau also gerne noch beim ersten Teil vorbei, falls du diesen nicht bereits gelesen hast.

 

Man hört oft, dass man andere erst lieben kann, wenn man sich selbst liebt. Ich würde dieser Aussage nicht zustimmen, weil ich viele Jahre geliebt und weitestgehend glückliche Beziehungen geführt habe, obwohl ich permanent mit mir selbst gekämpft habe. Ich glaube eher, dass viele Menschen denken, man kann sich selbst erst lieben, wenn man von anderen geliebt wird. Das würde aber implizieren, dass Selbstliebe nur Menschen zugänglich ist, die eine Partnerschaft, eine intakte Familie oder Freunde haben. Und gleichzeitig, dass Selbstliebe aufhört, wenn eine Partnerschaft beendet wird oder Freundschaften nicht für immer sind. Dabei ist Selbstliebe bedingungslos und für jede*n da.

Die Rolle des Partners

Ich wurde schon oft gefragt, wie meine Beziehung die Essstörung „überlebt“ hat. Und ich glaube, ein zentraler Punkt war, genau das zu verstehen. Von meinem Freund nicht zu erwarten, dass er mich liebt, damit ich mich endlich auch selbst lieben kann. Nicht zu erwarten, dass er der Held in einer Geschichte ist, in der es eigentlich darauf ankommt, meine eigene Heldin zu sein – oder zu werden. 

 

Das bedeutet auf keinen Fall, dass die Beziehung im Prozess der Heilung gar keine Rolle spielt. Eine Essstörung wirkt sich auf unterschiedliche Lebensbereiche und damit natürlich auch auf die Beziehung aus. Das war etwas, das ich auf meinem Weg selbst sehr stark gemerkt habe. Während ich meinen Freund kennengelernt habe, war ich, was die Heilung meiner Essstörung betrifft, auf einem sehr guten Weg. Ich war total offen, konnte jedes Treffen genießen, war spontan und flexibel. Durch verschiedene Umstände bin ich schleichend in alte Muster verfallen und zurück in die Magersucht gerutscht. Der Rückfall hat sich nicht nur körperlich, sondern vor allen Dingen emotional bemerkbar gemacht: Ich habe mich immer weiter verschlossen und zurückgezogen, war nicht mehr wirklich präsent und habe meinem Freund immer öfter abgesagt, weil ich lieber allein sein wollte. 

 

Was schnell und zugegebenermaßen verständlicherweise passiert, ist, dass der Partner denkt, es läge an ihm. Dass man kein Interesse hat oder das Interesse verliert. Auch mein Freund war am Anfang überrascht, wie schnell sich mein Verhalten ihm gegenüber gewandelt hat. Das bringt mich zu einer sehr wichtigen Frage: Wann und wie soll ich meinem Partner von der Essstörung erzählen? Und muss ich das überhaupt?

Wann und wie soll ich von meiner Essstörung erzählen?

Ich weiß, dass es viel Mut braucht, jemandem von der Essstörung zu erzählen. Dahinter steckt die Angst, nicht zu wissen, wie das Gegenüber reagiert. Aber auch die Angst vor Ablehnung sowie die Angst, nicht mehr geliebt oder gemocht zu werden. In meiner allerersten Beziehung und zahlreichen Freundschaften habe auch ich versucht, meine Essstörung geheim zu halten, was viele Probleme mit sich gebracht hat: Ich habe gegen meine Werte gelebt, unglaublich viel gelogen, damit Vertrauen verspielt, was teilweise auch zu Trennung und Kontaktabbruch geführt hat. 


Weil mein Freund mir unheimlich wichtig war, wollte ich das um jeden Preis vermeiden und war schon sehr früh sehr ehrlich. Eine Person, die dir nahesteht, der du vertrauen kannst, die dir wichtig ist und umgekehrt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit positiv reagieren. Denn ja, du hast eine Essstörung – aber du bist nicht deine Essstörung. Es gibt so viele Qualitäten, Eigenschaften und Merkmale, die dich auszeichnen. Deine Essstörung macht dich nicht weniger liebenswert. Sie macht dich zu keinem besseren oder schlechteren Menschen.

 

Wenn ich an meine Geschichte und Gespräche zurückdenke, in denen ich mich Menschen in meinem nahen Umfeld anvertraut habe, erinnere ich mich auch an tiefe Dankbarkeit. Nicht nur, weil mein Gegenüber mich plötzlich viel besser verstehen und in kritischen Situationen mit mir umgehen konnte, sondern auch, weil ich ihm dadurch mehr oder weniger die Erlaubnis gegeben habe, über eigene Verletzungen und Wunden zu sprechen. Wir sind alle nur Menschen. Wir haben alle unser Päckchen zu tragen. Wir haben schlichtweg gelernt, das zu kaschieren. Wir dürfen uns verletzlich zeigen und füreinander da sein. Genau dadurch wachsen und vertiefen sich zwischenmenschliche Beziehungen auch. Lasst uns weniger über das Wetter und mehr über echte Gefühle reden...

3 Tipps, die ich dir gerne noch mitgeben würde:

1.) Nimm dir ausreichend Zeit für das Gespräch mit deinem Partner und führe es an einem Ort, an dem du dich sicher fühlst (z.B. zu Hause oder bei einem Spaziergang in der Natur; nicht in einem vollen Restaurant, zwischen Tür oder Angel oder einem Streit).

 

2.) Überlege dir am besten schon vorher, was du sagen möchtest. Das gibt dir Sicherheit. Du kannst deine Gedanken auch aufschreiben und sie ablesen. Oder deinem Partner einen Brief schreiben, in dem du dich ihm anvertraust.

 

3.) Kläre die Intention des Gesprächs. Wie schon gesagt, sollte es in erster Linie um Ehrlichkeit gehen. Nicht darum, gerettet zu werden oder Tipps und Ratschläge von jemandem zu erhalten, der vermutlich noch nie Berührungspunkte mit Essstörungen hatte. Wenn du die Intention des Gesprächs klärst, nimmst du deinem Partner den Druck und eine hohe Verantwortung, der er nicht gerecht werden kann.

Herausforderungen in der Partnerschaft

Eine offene und ehrliche Kommunikation spielt nicht nur in der Anfangsphase, sondern auch danach eine wichtige Rolle. Denn eine Beziehung mit einer Person, die an einer Essstörung leidet, kann schwer sein, zu Missverständnissen führen und Herausforderungen mit sich bringen, die in einer „normalen“ Beziehung überhaupt keine Rolle spielen. Ich hatte lange das Gefühl, dass neben meinem Freund und mir meine Essstörung ein zentraler Bestandteil unserer Beziehung war. Weil sie mich in vielen Entscheidungen und Handlungen beeinflusst hat...

 

Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich an viele Situationen, in denen mein Freund mir zuliebe einen Kompromiss eingegangen ist. Sei es beim gemeinsamen Urlaub, auswärts essen gehen und der Freizeitgestaltung. Auch körperliche Intimität stellt viele Beziehungen auf die Probe, weil sie für Betroffene von Essstörungen eine körperliche, emotionale und mentale Challenge sein kann.

Körperlich, weil ein niedriger Körperfettanteil und/oder Untergewicht zu hormonellem Ungleichgewicht führt. Die Östrogen- und Testosteronspiegel, verändern sich, wodurch es zu einem Libidoverlust, also einem verminderten sexuellen Verlangen, kommen kann.

 

Emotional, weil man sich unwohl und unattraktiv im eigenen Körper fühlt. Man hat Angst, sich verletzlich zu zeigen, sich jemandem hinzugeben und gesehen oder berührt zu werden. Hinzu kommt, dass man nicht wirklich präsent ist, weil die Gedanken vielmehr beim eigenen Körper, der Essstörung und negativen Glaubenssätzen sind, als beim Partner.

 

Wichtig ist, sich Zeit zu geben. Einerseits, weil die Libido mit steigendem Gewicht und Körperfettanteil nach und nach zurückkehrt. Andererseits, weil man seinen Körper im Prozess der Heilung kennen- und lieben – oder zumindest akzeptieren lernt. Weil das Desinteresse an körperlicher Intimität einiges vom Partner abverlangt, ist Kommunikation auch an dieser Stelle ein wichtiger Schlüssel: Du darfst deinem Partner erklären, dass dein Desinteresse nichts mit ihm zu tun hat und darüber sprechen, ob und wenn ja, wie ihr körperlich intim werden könnt. Vielleicht fühlst du dich in einem bestimmten Setting (z.B. mit gedimmtem Licht) wohl, vielleicht hast du aber auch bestimmte Tabus, die dein Partner kennen sollte (z.B., dass du ungern am Bauch berührt werden möchtest). Auch wenn es dir schwer fällt, für dich einzustehen: Ein Gespräch verhindert, dass sich dein Partner vor den Kopf gestoßen fühlt und ermöglicht dir, dich sicher zu fühlen.

 

Das Schlimmste, was du im Prozess der Heilung machen kannst, ist, dich auf Dinge oder Situationen einzulassen, die sich nicht gut für dich anfühlen. Weil du glaubst, du „musst“. Die dich anstrengen und überfordern. Ob du in einer Beziehung bist oder nicht – du bist die wichtigste Person und darfst gut zu dir sein!

Chancen in der Partnerschaft

Mir ist bewusst, dass dieser Beitrag viele Schwierigkeiten beleuchtet und eventuell den Anschein erweckt, dass eine Beziehung mit einer Person, die an einer Essstörung leidet, unmöglich ist. Das ist auf keinen Fall so. Mein Freund und ich sind Stand heute fast fünf Jahre zusammen, haben wunderschöne Erinnerungen gesammelt und einiges gemeinsam durchgemacht. Eine Beziehung mit einer Person, die an einer Essstörung leidet, ist nicht unmöglich – sie erfordert aber, sich immer wieder in den Partner hineinzuversetzen, Kompromisse eingehen zu können und gemeinsam einen Weg zu finden.

Obwohl es schwierige Tage, Phasen, Wochen, Monate gab, würde ich behaupten, dass wir daran gewachsen und stärker geworden sind. Dass wir dadurch gelernt haben, uns in den anderen hineinzuversetzen und uns zu fragen: Wie fühlt er sich? Was geht in ihm vor, wenn ich bestimmte Dinge, sage oder tue?

 

Sodass dein Partner erkennt, welche Kommentare hilfreich sind und welche verletzend. Ob du in einer kritischen Situation jemanden brauchst, der sagt „Du schaffst das!“ oder jemanden, der dich mit einem „Es ist auch okay, wenn du es nicht schaffst!“ in den Arm nimmt. Aber auch damit du die Brille deiner Essstörung ablegst und nicht länger nur siehst, was sie sehen will. Dein Partner meint es mit hoher Wahrscheinlichkeit gut mit dir. Er möchte dich nicht kritisieren, wenn er dich auf dein Essverhalten anspricht oder frägt, ob der dritte Spaziergang am Tag wirklich noch sein muss.

 

Für mich war das ein sehr bedeutungsvoller Schritt auf meinem eigenen Weg. Ich habe erkannt, dass ich meinem Freund ein Stück weit sein Lachen nehme, was nicht heißen soll, dass ich Schuld an dieser Situation hatte. Wir haben uns nicht für die Essstörung entschieden. Doch wir können uns für Heilung entscheiden – und unsere Beziehung kann mitunter ein Grund dafür sein. Um wieder gemeinsam leben, lieben und lachen zu können. 

Hier noch ein paar Tipps für dich und deinen Partner:

1.) Es ist unglaublich wichtig, das Krankheitsbild zu verstehen und Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Partner und Angehörige können und dürfen ebenfalls Podcasts hören oder Blogartikel lesen, die sich mit Essstörungen beschäftigen, um die Gedanken, Gefühle und Verhaltensmuster der betroffenen Person besser nachvollziehen zu können.

 

2.) Wie vorhin erwähnt, hast du als Betroffene eine Essstörung – aber du bist nicht die Essstörung. Es ist wichtig, dass dein Partner diese Einstellung beibehält und seinen Fokus nicht nur auf die offensichtlichen Symptome der Krankheit wie das Gewicht oder Essverhalten legt. Sprecht über Gedanken, Gefühle, Hobbys, Zukunftswünsche, Träume oder was auch immer euch sonst noch verbindet.

 

3.) Nicht nur deine, sondern auch die Gedanken und Gefühle deines Partners brauchen Raum, verarbeitet zu werden. Dementsprechend können eine Therapie oder spezielle Hilfsangebote von Beratungsstellen nützlich für deinen Partner sein. Wichtig ist auch, dass dein Partner sein Leben nicht aufgibt, auch wenn er am liebsten rund um die Uhr für dich da wäre. Er sollte weiterhin seinen Hobbys nachgehen, Freunde treffen und sich qualitative Auszeiten gönnen, in denen die Essstörung keinen Platz hat.

 

4.) Damit du zu einer gesunden Beziehung mit deinem Körper und dem Essen zurückfinden kannst, ist es wichtig, dass sich auch dein Partner von der Diätkultur distanziert und Leichtigkeit vorlebt. Hast du einen Partner, der selbst penibel darauf achtet, was und wie viel er zu sich nimmt, Lebensmittel in „gut“ oder „böse“ kategorisiert und täglich Sport macht, wirst du unter Umständen getriggert. Es ist wichtig, über potenzielle Trigger zu sprechen und dir auf lange Sicht auch zu erlauben, Menschen zu verlassen, wenn du merkst, dass sie dir nicht mehr guttun.


Alles Liebe,

deine Saskia

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